Von G.K. Nobelmann
Liv stand in der Auffahrt, Dino auf dem Arm. Jens hatte einmal kurz gehupt, bevor er um die Ecke bog, und prompt hatte der Junge angefangen, dem Wagen nachzuwinken; Liv hoffte, dass Dino nicht anfangen würde zu weinen, jetzt, wo ihm die Tragweite der Situation aufzugehen begann.
„Wollen wir auf den Spielplatz?“
Sie setzte ihn auf dem Pflaster ab. Dinos Aufmerksamkeit hing immer noch an der Straßenecke, hinter der seine Eltern verschwunden waren. Er schüttelte den Kopf.
Liv sah zu dem Nachbarhaus, eins zu eins identisch zu dem, vor dem sie gerade stand. Leere Fenster, noch kein neuer Mieter. Auf der Auffahrt stand etwas, ein Karton, groß genug, dass zum Beispiel ein vierjähriger Junge gut hineingepasst hätte.
„Guck mal, was ist das denn?“
Plunder. Glasvase, ein Stapel Bücher. Weihnachtsdeko. Auf der Kartonklappe stand Zu verschenken, in Edding.
Dino fiel fast in die Kiste vor Glück. Liv sah ein, dass das ein Fehler gewesen war. Ihre Schwester stand nicht auf Zeug; keine Deko, kein Schnickschnack. Kaputte Leuchtengel fielen auf jeden Fall nicht in Beccas Design-Schema.
„Ist das für uns?“, fragte Dino hoffnungsvoll.
„Ich glaube“, sagte Liv, „die haben nur vergessen, das wegzuschmeißen.“
Dinos Gesicht fiel direkt wieder in sich zusammen. Scheiß auf Becca, dachte Liv.
„Weißt du was, such dir was aus. Was Kleines. Okay?“
Dino sichtete und prüfte. Zuletzt waren nur noch ein Strauß Plastikrosen, ein Geschicklichkeitsspiel und eine Art Mini-Tür im Rennen. Dino hielt Liv die Rosen unter die Nase, „für Mama?“
Bei Becca würden demonstrativ die Wehen einsetzen, wenn sie diese Teile sah. Liv schüttelte den Kopf. Dino sah von dem Spiel, in dem Kügelchen rasselten, zu der kleinen Tür. „Was ist das?“
Gute Frage. Liv war ebenfalls nicht groß in Deko. „Ich glaube, das ist eine Wichteltür“, sagte sie. Dino guckte sie an. „Die macht man an der Wand fest, und dann, äh, dann wohnt dahinter ein Wichtel.“
Beziehungsweise, man tut so als ob; aber dafür war es mittlerweile zu spät. Dino betrachtete die schrottige kleine Holztür, als handele es sich um den Koh-i-Noor.
Liv nagelte den Türrahmen an der Wand fest, und als Dino das zu hoch fand, nahm sie die kleine Treppe aus dem Massivholz-Puppenhaus und stellte sie davor. Die quietschgrüne Tür sah schauerlich aus neben den pädagogisch wie ökologisch korrekten Spielsachen, Becca würde Schaum vor dem Mund kriegen.
Unten in der Küche warf sie einen Blick auf ihr Handy, das erstemal an diesem Tag. Vierzehn Anrufe und ein paar Nachrichten.
Von Beccas Letzter-Urlaub-vor-Baby-zwo-Wochenende konnte er nichts wissen. Es sei denn, Mama hatte gequatscht, Liv wusste, es hätte mehr gebraucht als ein paar Andeutungen ihrerseits, bevor Mama sich von ihrem Schwiegersohn-Traum verabschiedete. Der Leon, so ein netter junger Mann!
Die Nacht verbrachte sie vor dem Fernseher. Dino schlief zufrieden, sie hatten dem Wichtel ein Tellerchen aus dem Puppenhaus hingestellt, und Liv ließ sich breitschlagen, ein Stückchen Brot zu holen: „Weil, Tante Liff?, der ist doch bestimmt hungrig, der war doch so lange in dem Gatong!“
„Karton“, sagte Liv. „Es heißt Karton, Dinosaurino.“
Die Kruste aß sowieso keiner.
Liv hatte nicht vor, nach oben zu gehen. Falls jemand versuchte, sich Zutritt zu verschaffen, musste sie es mitbekommen, so früh wie möglich. Also blieb sie im Wohnzimmer, ausgestreckt in Jens‘ Sessel, und ließ sich berieseln, bis die Werbung kreativ wurde und das Programm unerträglich, und selbst dann fiel es ihr schwer, den Fernseher auszustellen.
Die Stille kam ihr sehr groß vor.
Am Morgen war Dino grantig, denn seine Mama war nicht da, und der Wichtel hatte das Brot nicht gegessen.
„Lass ihn doch erstmal einziehen“, sagte Liv, „der hat bestimmt ganz viel auszupacken und einzuräumen.“
Sie warf einen Blick auf ihr Handy. Letzte Whatsapp von gestern nachmittag, Wirst schon sehen was du davon hast FOTZE!!
Und dann nichts mehr. Was hieß das? Gab er auf? So schnell? Oder war das in Wirklichkeit eine Ankündigung. Weil er wusste, wo sie war. Ihr nicht länger irgendwelche hilflosen Drohungen hinterherschreien musste, die sie ungehört und ungeöffnet ignorieren konnte.
Livs Blick wanderte zur Terrasse. Keine Vorhänge, abends saß man hier wie auf einer Bühne. Küchenzeile, Esstisch, Sitzecke mit Fernseher, alles wunderbar einsehbar.
Fuck.
Vielleicht hatte er ihr beim Schlafen zugesehen,
fuck.
Da auf den Steinplatten gestanden, geduldiges Warten, während er sich überlegte, wie er sie am besten bestrafte.
Liv trat ans Fenster. Erde lag auf dem Fußabtreter vor der Terrassentür; schwarze Krümel, wie aus den Stollen eines schweren Stiefels.
„Amsel“, sagte Dino an ihrem Bein und zeigte auf den Vogel, der im Gras pickte. Livs Reaktion war so heftig, dass die Amsel davonstob.
„Schon gut“, sagte Liv, „das hast du gut gesehen, du bist ja ein richtiger Vogelkenner, nicht weinen, okay?“, aber Dino wollte zu seiner Mama. Liv musste ihm noch dreimal mitteilen, was für ein toller Fachmann er war.
„Weißt du was?“, sagte Liv. „Heute gehen wir ins Naturkundemuseum. Da gibt es ganz viele Vögel. Dann werde ich vielleicht auch so klug wie du.“
Auf der Suche nach dem Affen, ohne den Dino nicht rauskonnte, trat Liv in etwas Hartes. Kein Lego-Stein; was sie sich aus der Socke pulte, war schmal, dunkel und leicht gebogen.
„Ich hab dir doch gesagt, der Wichtel magte das nicht“, sagte Dino und zog sich hochkonzentriert den Gummistiefel an den falschen Fuß.
Nach dem Museum gingen sie zu McDonald’s, denn Liv wusste, was ihre Schwester von dieser Art Ernährung hielt.
Zu Hause trug Dino stolz seinen Happy Meal-Karton nach oben. Als er wieder nach unten kam, strahlte er. „Ich hab dem Wichtel ein Pommes gegeben, vielleicht mag er das lieber!“
Liv sah es, als sie ihn ins Bett brachte, krummes, kaltes Pommesstück auf Puppenhausteller, oberste Stufe der kleinen Treppe. Daneben lehnte der Plastikmann aus dem Happy Meal an der Wand. Der Raum stank jetzt schon nach Frittenfett, erstaunlich, dass so etwas Kleines derart ausdünsten konnte.
Im Hinausgehen pickte sie die schrumpelige Pommes vom Teller und versenkte sie im Müll.
In dieser Nacht schlief sie kaum.
Immer noch keine Nachricht.
Draußen beutelte der Nachtwind Beccas Sträucher. Liv stellte sich an die Terrassentür und sah Sternglitzern zwischen Wolkenfetzen, das vereinzelte Leuchten ferner Fenster.
Komm doch, du Arschloch, dachte sie. Mach doch, bringen wir’s hinter uns.
Am Morgen hing ein Geruch im Raum.
Liv checkte Herd und Kühlschrank, dann griff sie nach dem Knauf der Schranktür, hinter der Beccas Abfallbehälter wohnten.
Die Eimer lagen gekippt wie Dominosteine, ihr Inhalt auf dem Boden verteilt.
Liv richtete sich auf. Der Abfall roch nicht gut, aber das Gemisch war weit entfernt von dem Mief, in dem sie aufgewacht war: stechend, verdorben, mit einem Unterton von kaltem Rauch.
Sie war dabei, die Terrassentür aufzuhebeln, als Dino die Treppe herunterkam wie einer seiner Namensvetter. „Tante Liff, Tante Liff“, er hielt ihr den Plastikmann hin, zumindest, was davon übrig war:
„Oh Mann, Dino“, denn Liv sah gar nicht ein, sich auf diese Weise zu einem zweiten Besuch im Frittenhimmel nötigen zu lassen. „Musste das sein?“
Dino sah zu ihr auf. „Das war der Wichtel, ich glaub, der war böse!“
Liv breitete die Einzelteile des Muskelmannes auf dem Tisch aus und versuchte, ihn wieder zusammenzustecken. Die Arme der Figur waren aus der Schulter gebrochen, fleischfarbene Löcher, wo das Gelenk hätte sitzen sollen.
Aus dem Augenwinkel sah sie ihr Handy aufleuchten.
Okay Schlampe ich weiß wo du bist freust du dich schon auf mich
„Was steht da?“, fragte Dino, der ihr Gesicht gesehen hatte.
„Nichts“, sagte Liv. „Da steht, Wichtel gibt es gar nicht, und deshalb machen sie auch nichts kaputt.“
Sie drehte das Handy mit dem Bildschirm nach unten.
„Aber ich hab den gesehn“, sagte Dino.
Liv zog die Dose mit dem Müsli aus dem Regal. „Na klar hast du das.“
„Doch“, sagte Dino, „ganz echt, der war groß und hatte Haare und ging bis zur Decke, so groß war der.“
Liv wollte ein Bier. „Bis zur Decke“, sagte sie. „Wie soll der denn durch die Wichteltür passen“, und Dino zuckte die Achseln und versuchte, allein die Müslidose aufzustemmen.
„Der ist geschrumpst.“
Liv nahm ihm die Dose ab und schüttete Haferflocken in die Schale. „Dann wäre er ja noch kleiner geworden.“
„So umgekehrt geschrumpst“, sagte Dino, „die Tür gingte auf und er ist da raus und auf der Treppe wurde er groß!“
Liv wusste wieder, warum sie keine Kinder wollte.
„Kannst ja gucken gehen“, sagte Dino und wühlte mit dem Löffel durch sein Müsli.
Dinos Zimmer roch nach Höhle. Der Höhle eines großen, pelzigen Tiers mit Erde im Fell. Derselbe Geruch wie unten, nur deutlich intensiver.
Auf dem Spielteppich der Abdruck von etwas, das ein Fuß sein mochte.
Der Wind blies Regenluft in den Raum. Die Wichteltür war fest zu, natürlich; Liv hob die Puppenhaustreppe auf. Fand Haar im Winkel der Stufen, gerades, borstiges Haar, und Kratzer im Holz. Parallel, wie von Krallen, Mäusekrallen vielleicht, nur dass keine Maus der Welt sechs Klauen an einer Pfote hatte.
Sechs Klauen auch in dem Teppichabdruck. Liv hielt ihren Fuß daneben und verwischte die Spur sofort, der Flor wieder unberührt. Ihr Größe-38-Fuß hätte fast zweimal in diesen unmöglichen, nichtexistenten Abdruck gepasst.
„Okay.“
Liv zog das Handy aus der Hintertasche der Jeans. „Okay, ich schlag dir was vor.“
Drehte sie gerade durch? Bestimmt.
Sie dachte an das Geräusch, mit dem Leon das Scharnier ihres Laptops durchgedrückt hatte.
„Kein Brot“, sagte sie. „Kapiert. Aber Pommes. Ich geb dir eine ganze Handvoll Pommes. Aber du lässt uns in Ruhe.“ Sie zögerte. „Und du musst eine Sache für mich tun.“
Sie kauerte sich vor der Wichteltür auf den Boden. Ein Faden Rauchgeruch wehte ihr um die Nase.
Liv entsperrte das Handy und rief das Foto von der Party im April auf; der Party, nach der Leon ihr das erste blaue Auge verpasst hatte. Ein abgerissener Plastikfuß grub sich in ihr Schienbein.
„Der hier“, sagte Liv und hielt dem Ding hinter der Tür ihr Handy hin. „Der soll es sein.“
Und dann schrieb sie Leon eine Antwort.