Von Florian Erhardt

 

„Also Herr Linde, fast geschafft, wir kommen zu Frage 102: Bei wem haben Sie Spuren hinterlassen?“

Ich schaue den Prüfer – laut seinem Namensschild Dr. Meyer – etwas verdutzt an. „Was soll das für eine Frage sein? Hinterlassen wir nicht alle überall Spuren? Meine Mutter hat damals immer gesagt, ich soll nicht so viel Dreck ins Haus tragen.“

Der Gesichtsausdruck meines Gegenüber deutet an, dass das nicht ganz die richtige Antwort sein kann.

Also versuche ich es mit: „Aber die größten Spuren habe ich wahrscheinlich in unserem Tennisclub hinterlassen, ich war fast 15 Jahre lang im Vorstand. Und dass ich einen wunderbaren Sohn aufwachsen sehen durfte, war—“

Dr. Meyer schaut mich über den Rand seiner Smartglasses hinweg an unterbricht mich: „Passt, das reicht mir schon als Antwort. Können wir weitermachen oder möchten Sie kurz einen Schluck trinken?“

„Ne, alles gut.“, krächze ich aus meinem trockenen Mund heraus.

Er hält kurz inne und notiert sich auch diese Antwort auf seinem unsichtbaren Keyboard. „Super, dann sind wir schon bei der einhundertdritten und letzten Frage: „Wann hatten Sie das letzte Mal Geschlechtsverkehr?“

Ich werde ein wenig rot. „Naja…also…vielleicht…ich nehme an, bevor meine Frau gestorben ist…vielleicht so vor 10 Jahren?“

Dr. Meyer notiert, blickt auf, spricht: „Onanieren Sie?“

„Gehört das noch zum Test?“

„Nicht so wichtig, die Ärztin kommt vielleicht nochmal drauf zurück.“

„Heißt das, wir sind fertig?“

„Teil eins hatten Sie bei mir, und ja, damit sind wir fertig. Der Leistungstest und – wie gesagt – die ärztliche Untersuchung kommen noch, aber das wissen Sie ja schon.“

„Wann gibt’s die Ergebnisse?“

„Direkt nach der ärztlichen Untersuchung, ich würde Sie aber bitten, erstmal im Wartezimmer Platz zu nehmen.“

 

Mindestens eine halbe Stunde später sitze ich immer noch dort. Da muss doch etwas falsch gelaufen sein, wenn das alles so lange geht, oder? Ich schenke mir nochmal etwas Leitungswasser nach. Gibt ja sonst nichts zu tun. Auch wenn die Blase so langsam drückt. Gut, mit 80 Jahren auf dem Buckel ist das normal, oder?
Ob ich die Krankenschwester in dem viel zu knappen Nylondress suchen und nach der Toilette fragen soll? Ich fühle kleine Schweißperlen auf meiner Stirn. Nicht, dass das negativ in die Bewertung einfließt. „Lieber warte ich noch ein bisschen“, murmele ich.

Und vor sich hinmurmeln fließt positiv in die Bewertung ein?

Ich befehle der Stimme in meinem Kopf, die Klappe zu halten.

Ich hab aber Recht! wehrt sich die Stimme.

Selbst wenn: Bis jetzt läuft es doch trotzdem gut, oder?

Das Bellen der Hunde im Nachbarzimmer verheißt trotzdem eher Übles.

Die sind für jemand anderen, beschwichtige ich mich selbst. Es lief doch wirklich gut, im Kopf bin ich noch richtig fit! Maurice hatte Recht, die Wissensfragen waren als pensionierter Geschichtslehrer ein Klacks. Als der Euro eingeführt wurde, war ich sieben Jahre alt, sowas vergisst man nicht. Und wer die Präsidentin der Vereinigten Staaten von Europa ist, sollte wohl jeder im Kopf haben, oder?

Und der Reaktionstest klappt auch?

„Pah!“, schnaube ich, „Wenn’s zum Autofahren noch reicht, wird der Test auch funktionieren!“

Die Krankenschwester stolziert durch die Tür und blickt durch mich hindurch. „Herr Linde?“

Ich nicke.

„Würden Sie mir bitte zum Reaktions- und Sehtest folgen?“, flötet sie.

 

Mir brummt immer noch der Schädel von den flimmernden Dreiecken aus dem Reaktionstest, während die junge Ärztin meinen Puls misst.

„Es ist normal, dass der Puls unter Stress ein bisschen höher ist. Bitte ganz ruhig weiteratmen, Herr Linde“, ermahnt sie mich streng.

„Ich atme normal“, erwidere ich trotzig.

Sie notiert etwas auf ihrem Klemmbrett. „Dann bitte noch einmal tief einatmen!“

Ich tue wie geheißen.

„Und ausatmen!“

„Ihr jungen Leute denkt wirklich, euch gehört die Welt, oder?“

Sie zuckt mit den Schultern. „Rauchen Sie?“

„Die Dinger sind seit zwanzig Jahren verboten!“

Sie verdreht die Augen. Jeder weiß, wie der Schwarzmarkt boomt. „Rauchen Sie?“

„Nö!“

„Trinken Sie?“

„Nicht mehr als ein Gläschen Wein alle paar Monate“, gebe ich trotzig zurück.

Die Ärztin schaut mich zufrieden an. „Super, das wars schon!“

Ich strecke ihr meine Hand hin, um ihre zu schütteln.

Ihre Augen weiten sich kurz: „Stimmt, fast vergessen!“ Mit einer winzigen Spritze nimmt sie mir einen Tropfen Blut aus der Fingerkuppe des Mittelfingers ab. Sie lächelt. „So, jetzt!“

Mir ist die Lust aufs Händeschütteln vergangen. „Und jetzt?“, frage ich leise. „Hab ich be—”

Sie weißt auf die Tür vor mir: „Einmal bitte dort durch und setzen, Dr. Meyer ist gleich wieder bei Ihnen!“

 

Dr. Meyer sieht mich mit seinen stahlblauen Augen an: „Herr Linde, wir haben Ihr Ergebnis.“

„Also?“

„90 im psychologischen Untersuchungsgespräch mit Allgemeinbildungstest, 19 im Reaktions- und Sehtest, 65 bei der körperlichen Untersuchung, das macht einen Schnitt von 58.“

„Was war das Zweite?“, flüstere ich, doch Meyers Redeschwall geht schon weiter.

„Wie Sie wissen, Herr Linde, brauchen Sie einen Schnitt, der über 50 liegt. Dass sie den erreicht haben, verdanken Sie vor Allem Ihrer herausragenden Allgemeinbildung und der Tatsache, dass Sie nach Ihrer Hodenkrebserkrankung keine weiteren Krankheiten hatten.“

„Der zweite Wert—“, setze ich nochmal an, doch wieder werde ich unterbrochen.

„Aber Ihr zweiter Wert – also der Reaktions- und Sehtest – liegt wie gesagt leider bei 19 und wie Sie wissen, darf keine Einzelleistung unter 20 liegen.“

Das Bellen der Hunde scheint lauter zu werden.

„Aber…kann ich nicht nochmal—“

„Wie Sie wissen, sind unsere Tests perfekt nach DIN genormt und genau auf das Testsubjekt zugeschnitten, sodass keine Fehler möglich sind. Ihre Kontaktperson Maurice Linde—“ er sieht kurz auf und unterbricht sich – „Ihr Sohn?“

Ich nicke.

„Ihre Kontaktperson ist informiert, Testament und Ausweis hatten Sie ja am Empfang abgegeben, richtig?“

„Faschist!“, zische ich meinem Gegenüber entgegen.

Meyer zuckt nur mit der Schulter. „Wir tun das Nötige, um ein faires Rentensystem für alle zu sichern, mehr nicht.“

Ich will aufspringen, doch meine Knie versagen den Dienst.

Meyer lächelt mich müde an: „Kein Grund, es schwerer zu machen, als es sowieso schon ist.“ Er zieht die Spritze mit einer schwarzen Flüssigkeit auf.

„Ich wollte—” versuche ich kraftlos, doch er fällt mir schon wieder ins Wort.

„Keine Angst, geht ganz schnell!“ Schneller als gedacht umrundet Meyer den Tisch und steht hinter mir.

„Nicht…“, flüstere ich machtlos.

„Keine Angst, nur ein kleiner Pikser im Nacken. Drei, Zwei, Eins…“

 

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