Von Monika Heil
Wie viele Jahre war er nicht hier gewesen? Zu viele. Wehmütig schaute Harry Westphal die Dorfstraße hinunter, fixierte das alte, windschiefe Häuschen und trat schließlich ein. Wie schon in seiner Kindheit war die Haustür tagsüber nicht verschlossen. Der lange schmale Flur lag im Dunkel, alle Zimmertüren standen offen.
Er betrat das Wohn- und Arbeitszimmer, murmelte leise:
„Hallo Onkel Hermann. Überraschung.“
Als hätte er ihn erwartet, schaute der Angesprochene von seiner Näharbeit auf. Nahe dem Fenster saß der alte Mann im dunkelbraunen, verblichenen Ohrensessel. Das Licht der Stehlampe fiel auf seinen kahlen Schädel. Die Brille windschief auf der Nase, ein Stück Stoff zwischen seinen gichtigen Händen bewegend, schaute er überrascht auf.
„Harry, wie schön. Sieht man dich auch mal wieder? Wie lange bist du nicht hier gewesen? Zehn Jahre oder mehr?“
Otto Lehner hatte ihn angerufen. Sein alter Schulfreund war jetzt Bürgermeister in der kleinen Harzgemeinde. Harrys Adresse in München auszumachen, war nicht schwierig gewesen, denn das Modeatelier Westphal war weit über die Grenzen Bayerns bekannt.
„Dein Onkel wird bald hundert und du bist sein einziger Verwandter. Du solltest dich wirklich mal wieder blicken lassen.“
Und deshalb war er jetzt hier. Alles war noch so, wie Harry es in Erinnerung hatte. Das jahrzehntealte Rautenmuster der Tapete, die Sammeltassen seiner Großmutter hinter staubblinden Scheiben im alten Nussbaumschrank, die betagte Singernähmaschine mit ihrem klobigen Holzdeckel. Hier hatte seine Großmutter Else zusammen mit ihrem Bruder Hermann die Schneiderwerkstatt betrieben, seine Mutter Anna – von allen nur Aenne genannt – Damenmoden kreiert.
Und dort in der Ecke stand Madame. Sein Großvater hatte sie von einer seiner Frankreichreisen mitgebracht. Daher wohl ihr Name. Es war keine deutsche Schneiderpuppe im üblichen Sinne und es war keine Schaufensterpuppe. Madame hatte von beidem etwas. Der Körper aus weichem, anschmiegsamem Leinen, mit Wolle gefüttert, darauf ein Porzellankopf, handbemalt und Echthaar. Strahlend blaue Augen, ein rotgeschminkter Kussmund, Rouge auf den Wangen. Die Arme in graziler Bewegung. Wann immer eine Kundin das Geschäft betrat, drehte sich Madame anmutig um die eigene Achse, um ihre neueste Kreation von allen Seiten vorzuführen.
„Sie dreht sich immer dann, wenn eine schöne Frau den Laden betritt“, hatte der Großvater jeder Kundin schmunzelnd erzählt.
Während sich Harry noch staunend umschaute, klappte erneut die Haustür.
„Harry?“
„Manuela?“
Lachend fielen sich die beiden um den Hals. Manuela Krüger, seine Sandkasten- und Schulkameradin, seine Tanzstundenliebe. Heute in der Gemeinde angestellt, kümmerte sie sich u.a. um die sozialen Belange der älteren Mitbürger. Sie organisierte Essen auf Rädern, das sie Hermann, wie jeden Tag, persönlich brachte. Sie hatte ihm auch eine Pflegerin besorgt, die sich morgens und abends um sein Befinden kümmerte.
„Wie lange bleibst du? Wo bist du untergebracht?“
„Ich habe mir ein Zimmer im ´Deutschen Haus` genommen.“
„Jetzt habe ich leider nicht viel Zeit. Wollen wir uns mal zum Abendessen treffen?“
„Gute Idee. Ich lade dich ein. Heute um acht im ´Deutschen Haus`? Und Onkel Hermann bringe ich mit.“
Abwehrend ob der Alte beide Hände.
„Geht Ihr man allein. Das ist nix für mich. Da liege ich schon im Bett.“
Die nächsten Stunden verbrachten Hermann und sein Besucher in reger Unterhaltung. Immer wieder schaute Harry zu Madame.
„Sie dreht sich schon seit Jahren nicht mehr“, bedauerte sein Onkel.
Abends traf er sich mit Manuela. Die meisten ihrer Sätze begannen mit: „Weißt du noch, als …?“ und endeten lachend: „Das ist alles so lange her. Geschichten aus dem letzten Jahrhundert.“
Stunden später, nachdem er seine Bekannte nach Hause gebracht hatte, schaffte es Harry nicht, direkt ins Hotel zurück zu gehen. Eine Aufgabe brannte ihm unter den Nägeln. Inzwischen hatte er einen Hausschlüssel bekommen, denn nachts wurde selbstverständlich abgeschlossen.
Leise betrat er das Haus. Aus dem ersten Stock hörte er Hermann leise schnarchen. Wo die Werkzeugkiste stand, wusste er noch. Eine Stunde arbeitete er konzentriert. Dann war es geschafft. Harry öffnete den Schrank, in welchem seine Mutter ihre schönsten Arbeiten aufbewahrt hatte. Vorsichtig zog er ein apfelgrünes, bodenlanges, spitzenübersähtes Kleid vom Bügel. Er erinnerte sich. Diese Kreation hatte sie zu ihrer Silberhochzeit getragen. Nur drei Jahre später war sie bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Madame sah prächtig darin aus. So leise, wie er gekommen war, verließ Harry das Haus und ging durch die stillen Dorfstraßen zurück in sein Hotel.
Es wurde spät, bis er am nächsten Tag wieder bei seinem Onkel erschien. Wie gestern saß dieser in seinem Sessel, eine kleine Stoffbahn und Nähzeug in den Händen. Harry begrüßte ihn liebevoll, ging direkt zu Madame und drückte den verborgenen Knopf.
„Madame bewegt sich, Harry, schau, Madame bewegt sich. Und wie schön sie aussieht!“ Aufgeregt wies Hermann mit zitternder Hand in Richtung Figur. Ein dankbares Lächeln lief über das Gesicht des Alten. Keine fünf Minuten später kam Manuela mit dem Mittagessen.
„Immer, wenn eine schöne Frau den Raum betritt“, schmunzelte Harry, nahm ihr den Karton ab und stellte ihn auf den Tisch. Er wollte seine Jugendfreundin umarmen, doch Manuela hatte nur Aufmerksamkeit für Hermann, der jetzt mit geschlossenen Augen auszuruhen schien.
„Harry“, flüsterte sie. „Dein Onkel hat uns verlassen.“
***
Zehn Tage später war Harry Westphal wieder zu Hause in München. Einige für ihn wertvolle Dinge brachte er mit. Alte Fotoalben der Familie, Manuelas Telefonnummer und ein paar hübsche Schnappschüsse von ihr, die er immer wieder begeistert anschaute. Sein Junggesellenherz klopfte dabei zunehmend.
Er hatte auch eine Spedition beauftragt, die nach ein paar Wochen Madame wohlbehalten bei ihm ablieferte. Harry begrüßte ihre Ankunft mit heller Freude und gab ihr sofort einen Ehrenplatz im großen Fenster seines Modeateliers. Er schoss ein paar Aufnahmen und rief als erstes seine Jugendfreundin an.
„Manuela, heute ist Madame angekommen. Toll sieht sie aus. Ich schicke dir gleich ein paar Fotos und …“,
„Freut mich mein Lieber“ unterbrach sie seinen Redeschwall. „Und, weißt du was? Ich könnte am Wochenende zwei freie Tage nehmen und sie mir dort persönlich anschauen. Was hältst du davon?“
„Viel, sehr viel.“ Sein Herz pochte wild. „Wann kannst du hier sein?“
„Hast du gehört, Madame, sie kommt. Sie kommt her zu mir. Weißt du, dass sie genau so schöne blaue Augen hat wie du? Übrigens, du siehst toll aus deinem apfelgrünen Ballkleid, das noch von meiner Großmutter stammt. Ist doch ein schöner Kontrast zu meinen Arbeiten, oder?“, strahlte er Madame an und sie strahlte zurück.
Dank einer Zeitschaltuhr drehte sie sich – und so auch gerade jetzt – zu jeder vollen Stunde für drei Minuten grazil um die eigene Achse. Das beobachtete auch Manuela, als sie am Samstagmittag vor dem Schaufenster stand.
„Immer, wenn eine schöne Frau den Raum betritt …“, hörte sie eine Stimme und öffnete lachend die Tür zu seinem Atelier.
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