Von Angelika Brox
Beim dritten Klingeln nahm er den Anruf entgegen.
»In fünf Minuten vor dem Haus!«, sagte die Stimme der Frau, die sich Pamela Smith nannte. »Zu niemandem ein Wort. Keine Bodyguards.«
So war es besprochen worden. Er hatte Ruhe gebraucht und sich gewünscht, abzutauchen. Sie hatte angeboten, ihm dabei zu helfen und seine Spuren zu verwischen.
Bei ihrem radikalen Vorschlag waren ihm Zweifel gekommen. »Spurlos verschwinden? Für immer?«
»Sie hinterlassen schon so viele Spuren«, hatte Pamela geantwortet, »das reicht mit Sicherheit für die nächsten Jahrzehnte. Man wird Sie bestimmt nicht vergessen.«
Als er den Hörer auflegte, merkte er, dass seine Hand zitterte. Jetzt, da es ernst wurde, spürte er ein nervöses Kribbeln im Magen. Aber seine Entscheidung war gefallen. Er würde die Sache durchziehen. Entweder brachte es ihn um oder es wurde seine zweite Chance.
Exakt vier Minuten später stand er auf der Zufahrt vor seiner Villa. Nach einer weiteren Minute näherte sich knatternd ein Hubschrauber. Pamela Smith landete auf der Rasenfläche. Geduckt lief er hinüber und stieg ein. Im nächsten Moment hoben sie ab.
Er sah sein Anwesen kleiner werden und nahm innerlich Abschied. Es war eine schöne Zeit gewesen, doch in den letzten Jahren war ihm alles zu viel geworden. Der Druck. Die Termine. Die Erwartungen. Ständig Forderungen, Stress und Fremdbestimmung. Immer weniger Schlaf, immer mehr Tabletten – zur Beruhigung, zum Schlafen, zum Munterwerden, gegen Verdauungsbeschwerden, gegen Schmerzen, gegen alles Mögliche … Bald würde sein Körper nicht mehr mitspielen.
Er atmete tief durch, schloss die Augen und betrachtete Bilder aus seinem inneren Fotoalbum.
Als sie landeten, schreckte er hoch. Vor sich sah er eine Halle, die an einen Flugzeug-Hangar erinnerte.
Sie stiegen aus.
Mrs. Smith deutete auf den länglichen Koffer in seiner Hand und fragte: »Was ist da drin?«
»Meine Gitarre. Ein Gegenstand ist erlaubt, sagten Sie.«
Sie ließ die Riegel aufschnappen, hob den Deckel an, warf einen kurzen Blick hinein und nickte. Dann öffnete sie das Schloss an einer schmalen Tür neben dem Rolltor und trat ein. Gespannt folgte er ihr.
Mitten in der Halle stand ein riesiges Ei aus Metall, ungefähr so groß wie ein Kleinwagen.
»Ziehen Sie sich aus!«, befahl Mrs. Smith.
»Wie bitte?«
Sie trug eine Reisetasche über der Schulter, die sie ihm nun vor die Füße stellte. »Dort brauchen Sie Kleidung, mit der Sie nicht auffallen.«
»Okay.« Er zog sich aus bis auf die Unterwäsche und begutachtete den Inhalt der Tasche. Als Erstes zog er einen hellbraunen Filzhut heraus, als Nächstes ein weißes Leinenhemd, eine braune Weste, eine schwarze Baumwollhose mit Hosenträgern und zum Schluss ein Paar dunkelbraune, knöchelhohe Lederschuhe.
Trotz der aufregenden Situation musste er schmunzeln. Die Sachen sahen aus, als wollte er zu einem Kostümfest gehen.
Während er sich anzog, holte Pamela Smith eine Fernbedienung aus ihrer Jackentasche und richtete sie auf das Metall-Objekt. Langsam klappte die obere Hälfte auf wie bei einem Fabergé-Ei. Das Innere war komplett verspiegelt. Ringsum verliefen durchsichtige Röhren, in denen Flüssigkristalle schimmerten. Ein unwirkliches Funkeln ging von ihnen aus. Es gab zwei Sitzplätze mit Gurten.
»Steigen Sie ein!«, sagte Pamela.
»Ich reise doch allein, oder?«
»Ja, sicher. Wie besprochen. Auf dem zweiten Platz können Sie Ihre Gitarre festschnallen.«
Er zögerte einen Moment. Noch könnte er es sich anders überlegen. – Nein! Er atmete tief durch, nahm den Gitarrenkoffer und stieg in das Ei.
Sie drückte ein paar Knöpfe auf der Fernbedienung. »Die Maschine ist so programmiert, dass Ihnen nach Erreichen des Zielortes genau drei Minuten zum Aussteigen bleiben. So sind die Sicherheitsvorschriften. Dann kommt sie hierher zurück. – Irgendwelche Fragen? – Okay, dann gute Reise!«
Das Ei schloss sich. Die Röhren leuchteten auf, der Apparat begann sich zu drehen. Zunächst fühlte es sich an wie in einem Jahrmarktkarussell, aber die Geschwindigkeit nahm rasch zu. Das Ei rotierte schneller und schneller, wie durch einen Strudel geschleudert, wie durch einen Tornado gewirbelt. Aus den Röhren drang leises Summen, die Kristalle flackerten und blitzten. In seinen Ohren knackte es, unter der Schädeldecke baute sich Druck auf, der stetig schmerzhafter wurde. Fast hätte er das Bewusstsein verloren.
Endlich ließ das Tempo nach und das Ei trudelte aus. Er massierte seine Schläfen und machte Grimassen, um die Spannung im Kopf loszuwerden.
Als sich die Kuppel öffnete, beeilte er sich, die Gurte zu lösen, schnappte seine Gitarre und kletterte hinaus.
Zuerst sah er nur Nebel. Allmählich zeichneten sich die Umrisse einer mächtigen Lokomotive ab, die auf den Gleisen hielt und ihre Umgebung in dichte Dampfwolken hüllte. Nach und nach erkannte er Waggons, Gebäude, Gaslaternen und Menschen. Zischend und rumpelnd setzte sich der Zug in Bewegung. Einige Reisende, die ausgestiegen waren, gingen den Bahnsteig entlang. Er folgte ihnen. Die Frauen trugen lange Kleider mit weiten Röcken und Rüschenhauben. Die Männer waren alle so ähnlich gekleidet wie er. Die Luft war erfüllt von Kohlengeruch, Parfümduft und heiterem Geplauder.
Auf dem Bahnhofsvorplatz warteten Kutschen und Oldtimer auf Fahrgäste. Links und rechts zweigten Straßen ab, gesäumt von farbig gestrichenen Holzhäusern. Es musste um die Mittagszeit sein, die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel.
Während er zusah, wie die ersten Fahrzeuge davonfuhren, wurde ihm bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wohin er gehen sollte. Also setzte er sich erst einmal im Schatten einer Platane auf eine Bank. Er nahm seinen Hut ab, fächelte sich damit ein wenig Kühlung zu und legte ihn neben sich.
Am besten konnte er nachdenken, wenn er Musik hörte. Er holte seine Gitarre aus dem Koffer und stimmte die Saiten. Dann ließ er die Finger von allein Töne und Melodien finden. Schließlich mündete die Improvisation in ein Intro und er begann zu singen: My Happiness, das Lied, das er vor langer Zeit für seine Mutter gesungen hatte.
Schon während der ersten Strophe näherte sich eine junge Dame mit hübscher dunkler Lockenpracht. Sie sah entzückend aus in ihrem geblümten Kleid, den geknöpften Stiefeletten und dem kleinen Strohhut mit blauen Bändern. Lächelnd warf sie ihm eine Münze in den Hut und hörte zu. Sofort blieben noch mehr Menschen stehen, warfen Geld in den Hut und lauschten der Musik. Alle wiegten sich im Takt, wirkten entspannt und schienen jede Menge Zeit zu haben.
Ja, hier würde er sich wohlfühlen. Zur Ruhe kommen und sich selbst wiederfinden. Frei über sein Leben entscheiden. Wieder gesund werden.
Als das Lied zu Ende war, applaudierte das Publikum und hoffte anscheinend auf eine Zugabe. Was sollte er als Nächstes spielen? Mit einem Song über blaue Wildlederschuhe konnte man hier vermutlich wenig anfangen. Jailhouse Rock fand er ebenfalls unpassend. Nachdenklich strich er mit den Fingern durch seine Haartolle und schaute nach oben. Über ihm schwebte ein Luftschiff vorbei wie eine dicke, bunte Zigarre.
Schauen wir mal, ob sie hier auch Gospels mögen, dachte er und stimmte So High an. Schon nach wenigen Takten wippten seine Zuhörer mit den Füßen und klatschten zu dem flotten Rhythmus. Er strahlte in die Runde. Vielleicht könnte er es hier schaffen, von seiner Musik zu leben und gleichzeitig alles ein paar Nummern kleiner zu halten.
Wieder erntete er viel Applaus. Die junge Dame im Blumenkleid setzte sich neben ihn und sagte: »Sie haben eine sehr schöne Stimme. – Darf ich fragen, wie Sie heißen?«
»Elvis …« Er überlegte. Zu einem Neubeginn gehörte auch ein neuer Name. »Elvis Aaron«, antwortete er dann. – Ja, das fühlte sich gut an.
»Würden Sie noch ein Lied für uns spielen, Mr. Aaron?«
»Mit Vergnügen. Darf ich auch um Ihren Namen bitten?«
»Adelaide. Adelaide Lovelace.«
»Sehr erfreut, Miss Lovelace. Das nächste Lied ist für Sie.«
Während er It’s Now Or Never sang, spürte er, wie der alte Ballast von ihm abfiel.
„Schon verrückt“, dachte er, „zu Hause weiß keiner, dass ich noch lebe!“
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