Von Helmut Blepp
Dörfer verschwinden. Landkarten werden von Menschen erstellt und geändert. Natürliche Grenzen werden durch politische ersetzt. Ansiedlungen werden reformiert, zugeordnet oder gar getilgt. Gestorben wird diesseits und jenseits dieser willkürlichen Barrieren und ausradierten Kataster.
Manchmal bleibt ein Name, aber die Menschen gibt es nicht mehr. Sie sterben am Rande eines Vulkans oder flüchten vor seinem Zorn. Manchen reißt wildes Wasser das Leben unter den Füßen weg. Andere ringen karger Erde das Brot für ihre Kinder ab, doch wenn die Kinder trotzdem hungern, geben sie auf. Die Welt ist bevölkert von denen, die Felder bewirtschaften und daran scheitern, nur um neue Brachen urbar zu machen und weiter zu hoffen.
Seehof gehörte nie den Leuten, die dieses Land beackerten. Sie arbeiteten für Herren, die sie gar nicht kannten. Von ihren Ernten nahmen Fürsten und Pfaffen das meiste weg. In dem von ihnen angelegten See ertranken unbehütete Kinder, deren Mütter derweil hinter dem Pflug standen. Ohne Menschenrecht zahlten die Familien für den Bau neuer Kirchen und fütterten Armeen in Kriegen, die sie nichts angingen.
Ein trutziges Gebäude macht noch keine Heimat. Es wurde in eine Wildnis gestellt, die Ärmsten im Volk zur Fron dorthin beordert, und die Herrschaften von Gottes Gnaden schöpften den Ertrag ab, bis auf die Brosamen, die den Familien blieben. Als deren Enkel das Land endlich kaufen durften, verschuldeten sie sich aussichtslos. Als sie sich wie freie Bürger gebärdeten, sagten die Beamten ihnen, dass sie nach wie vor Leibeigene seien und erhöhten den Schuldzins. Schlechte Ernten besiegelten das Schicksal der Seehofer, denn der Boden warf immer weniger ab, und der See entzog den Feldern das Wasser. Aber die Familien waren fruchtbar. Bald dreihundert Seelen barg das Dorf.
Den alten Bauern kann ich mir gut vorstellen, und ich höre seine kehligen Flüche bedrohlich im Ohr. Er war derb und hatte fünf Söhne ohne Hoffnung auf ausreichend Scholle zur Saat. Seinen Nachbarn erging es nicht anders, so dass sie sich grämen mussten bei der Frage, wer die Töchter nehmen und ernähren sollte.
Doch sie liebten dieses versandete Land, den sterbenden Wald und den Totensee.
Dennoch gingen sie, sobald man sie ließ. Mit dem Verkauf ihrer Häuser zahlten sie ihre Schulden. Die Äcker wurden zu Wüstungen wie das Dorf selbst, dessen Steine und Ziegel abgetragen wurden. Dreihundert Menschen, entwurzelt. Wo immer sie Obdach fanden, ob in fremden Dörfern der Umgebung oder in der Neuen Welt, kämpften sie stets weiter ums Überleben. Und nie kam einer zurück.
Wir kennen Seehof als Geschichte, fahren oft daran vorbei. Ein Schild erinnert an die Vergangenheit. Doch ein Dorf ist da nicht mehr, das uns als Gäste begrüßen könnte, wenn wir dort parken, nur die Vorstellung eines Dorfes, aufgebaut und wieder dem Verfall preisgegeben. Niedergerissen die Katen und Schuppen, ausgeweidet und verschleppt in die Siedlungen rundum. Keine Kapelle mehr, um die Neugeborenen in die Gemeinde aufzunehmen, kein Friedhof mehr für die trostlos Verstorbenen, deren Pfarrer als erster ging, nur eine Ahnung dessen, was einst von Leben erfüllt war und Hoffnungen wider besseres Wissen. Selbst die dünnstimmige kleine Glocke des armseligen Kirchhauses wurde verschachert und ruft in einem Nachbarort noch heute von einem Schuldach die Kinder zum Unterricht.
Ein Gefühl von Trauer treibt uns über die wilden Wiesen, lässt uns innehalten beim Sturmbruch am Rand eines erneut sterbenden Waldes über einer Autobahn. Wenn wir weitergehen, riecht es nach See, nach einem anderen allerdings, künstlich geschaffen von Männern, die ihre Zeit damit verbringen, Fische ins Wasser zu werfen, um sie dann wieder heraus zu fangen.
Wir besuchen die Orte, die Seehof umlagerten und Beobachter des Niedergangs waren, Einöden in der Mittagssonne, die Straßen menschenleer. Häuser, so alt, dass ihre Sandsteinfundamente aus Seehof stammen könnten, stemmen sich gegen Dieselgestank und Neuzeit. Ihre Steine verraten nichts über ihre Herkunft, aber die Keller sind feucht, und aus ihren Fensterhöhlen muffelt Seegras auf die ordentlich gefegten grauen Gehsteige.
Was geisterte hier schon alles durch die Gassen? Warum wimmeln die lokalen Sagen von versetzten Grenzsteinen und kopflosen Wiedergängern? Wer suchte womöglich doch Gold an den schlammigen Ufern der Nebenarme des Rheins? Und wen zogen dabei die fetten Welse durch Sommeralgen auf den Grund?
Mit feuchten Taschentüchern auf den Köpfen, zuvor in eine poröse Pferdetränke getaucht, und viel Sonne, die auf die schweißigen Nasenrücken brennt, deren Haut sich schält und abblättert wie ein alter Farbanstrich, bleiben unsere Augen wach. Hier ein speckiges Kopfsteinpflaster im zeitlosen Hof ohne Hundekette, dort ein marodes Silo, in dem eine Katze über dem Wurf buckelt, lassen nicht zu, dass wir Abstand halten.
Wir wissen, dass Orte aufgegeben werden, deren Bewohner aufgegeben wurden und laufen ständig durch Vergangenheiten, die wir als jetzt und hier begreifen. Und auch wenn wir einander bestätigen, dass Seehof eine historische Episode war, die uns nichts angeht, so sind wir doch überzeugt, dass ferne Schatten die Sonne über die bemoosten Dächer jagen werden, sobald wir den flimmernden Weg zum Parkplatz einschlagen.