Von Armin Kahn

Ich sitze hinter dem Steuer meines Wagens, eine lange Strecke liegt vor mir. Die Gedanken wandern, treiben ziellos durch mein Bewusstsein – und plötzlich, einfach so, beginne ich, mit meinem Vater zu sprechen. Er sitzt auf dem Beifahrersitz, schaut sich neugierig um, sichtlich erstaunt über das Fahrzeug, das ihn umgibt, und noch mehr über das, was sich vor unseren Augen auf der Fahrbahn entfaltet.

„Was ist das für ein Auto?“, fragt er verwundert. „Ein Kia Sorento“, antworte ich sachlich. „Kia?“ wiederholt er ungläubig. „Noch nie gehört. Was soll das denn für eine Marke sein?“

Man muss wissen: Mein Vater war schon sein ganzes Leben lang Kfz-Mechaniker mit Leib und Seele, und hatte ein feines Gespür für alles, was vier Räder hat und fährt. Keine Marke war ihm fremd, kein Modell blieb ohne Kommentar – stets wusste er etwas Kluges, oft auch Überraschendes, zu sagen. Und doch: Der Wagen, in dem wir gerade sitzen, scheint ihm vollkommen unbekannt. Es ist, als spräche er eine Sprache, die die Welt längst vergessen hat.

„Front- oder Heckantrieb?“ fragt er mit funkelnden Augen, forschend.
„Keines von beiden“, erkläre ich. „Ein Allrad – eher was für unebenes Gelände.“
„Und was steckt unter der Haube?“ bohrt er weiter.

Ich erkenne den alten Tonfall, den er mir schon in Kindertagen täglich beim Mittagessen nahegebracht hat. Also antworte ich ihm ganz im Stil jener Jahre:
„Ein zweieinhalb-Liter-Diesel“, und noch ehe die nächste Frage kommt, schiebe ich hinterher: „Vierzylinder.“

Er zieht die Stirn kraus. „Klingt gar nicht wie ein Diesel“, sagt er anerkennend. „So leise hier drinnen… ich hätte auf einen Sechszylinder-Benziner getippt.“
Mein Vater – der Kenner, der Experte.

„Wie viel PS hat der?“ „Hundertsiebzig“, antworte ich knapp.

Er schluckt hörbar und stößt die Luft aus. „Unfassbar! Ein Diesel mit 2,5 Litern Hubraum – so viel Leistung? Das kann nicht sein!“ „Doch, doch“, sage ich mit einem leichten Lächeln, „Dank Turbolader und Direkteinspritzung – kein Problem.“

Er blickt starr auf die Straße, presst die Lippen zusammen. „Turbolader…“, murmelt er skeptisch. „Und wie lange soll so was halten?“ Ich sehe zu ihm hinüber:
„Meiner hat schon über 200.000 Kilometer drauf – läuft wie am ersten Tag.“

Er schüttelt langsam den Kopf, als wolle er sich vergewissern, dass er sich nicht verhört hat. „Ist das denn normal?“ fragt er zögerlich. „Aber klar“, erwidere ich. „Die heutigen Diesel leisten mit Turbolader weit mehr als früher – und wenn der Rost sie nicht frisst, laufen sie beinahe ewig.“

Wieder ein stummes Kopfschütteln. Dann ertönt die Stimme des Navigationssystems:
„Unfall vor Ihnen – Ihre voraussichtliche Ankunft verzögert sich um etwa 20 Minuten.“

Mein Vater starrt auf den kleinen Bildschirm, hebt den Finger und zeigt darauf.
„Woher weiß der das?“ fragt er leise, beinahe ehrfürchtig. „Echtzeitnavigation“, erkläre ich ihm beiläufig.

„Echtzeit? Der weiß also, was da vorne passiert?“ Er gestikuliert lebhaft in die Richtung, in die wir fahren. „Wie soll das denn gehen?“ „Ganz einfach“, sage ich, „die Handys der Menschen senden ständig ihre Position – so sieht das System, wo es stockt und wo es fließt.“

Er runzelt die Stirn. „Handys? Was ist das?“

Ich deute auf das kleine Gerät, das vor uns an der Windschutzscheibe klebt, verbunden mit Google Maps. „Das ist ein Handy. Man kann damit telefonieren,  fotografieren, im Internet surfen – und eben auch navigieren.“

Ich füge hinzu: „Hat heute fast jeder.“

Er betrachtet das Gerät, als sei es ein fremdartiges Wesen. „Fast jeder“, wiederholt er. „Und das funktioniert… einfach so, von hier aus?“

Ich versuche ihm in einfachen Worten zu erklären, wie Mobilfunknetze funktionieren, dass Festnetztelefone beinahe aus der Mode gekommen sind und wie man inzwischen mit dem Handy sogar bezahlen kann.

Da senkt er den Blick. Ich merke, dass er nicht mehr folgen kann, dass zu vieles auf einmal über ihn hereinbricht.

Und plötzlich ist er verschwunden. Ich sitze wieder allein in meinem Wagen, auf der Autobahn, unter dem endlosen Himmel.

Mein Vater ist seit 43 Jahren tot. Doch er hat Spuren hinterlassen – tief eingegraben in meinem Innersten.

In solchen Momenten, wenn die Gedanken still werden und die Straße sich wie ein Band durch die Zeit zieht, taucht er wieder auf. Dann sitzt er neben mir, ganz real, ganz nah. Und ich spüre den Wunsch, ihm alles zu erzählen – von all den Dingen, die sich verändert haben, von dem, was die Welt geworden ist.

Ich weiß, es hätte ihn brennend interessiert. Ich glaube sogar zu wissen, wie er reagiert hätte – mit Staunen, mit Skepsis, mit diesem uralten technischen Spürsinn.

Und deshalb, manchmal, taucht er einfach wieder auf. Sitzt da. Und hört mir zu.

 

V2  4655 Zeichen