Von Andreas Schröter
Ja, wissen Sie, heute geht’s mir gut. Ich habe eine süße Frau, die mich „mein Prinz“ nennt – und, mal ehrlich, wer kann das schon von seiner Gemahlin sagen? – und zwei ebenso süße Kinderchen. Und das sage ich, obwohl beide einen kleinen Geburtsfehler haben. Aber dazu später mehr.
Früher als Kind und Jugendlicher ging’s mir auch gut. Ich habe mit meinen Kumpels jeden Tag Fußball gespielt. Herrliche Zeiten.
Zwischendurch allerdings – zwischen meinem 19. und 22. Lebensjahr – gab’s eine Zeit, die etwas suboptimal war. Der ganze Mist fing an, als der bekloppte Ulli beim Fußball dermaßen weit übers Tor schoss, dass wir alle zusammen in den dahinter liegenden Wald pilgern mussten, um den verdammten Ball wiederzufinden (wir hatten nur den einen). Und ja, wie soll ich sagen: Wir entfernten uns immer weiter vom Sportplatz und gelangten immer tiefer in den Wald. Wie kann man so bekloppt sein, werden Sie fragen. Und Sie haben natürlich vollkommen recht. So weit wie wir liefen, kann kein Mensch schießen, nicht mal Harry Kane von Bayern München. Ich glaube, irgendwann haben wir uns einfach einen Spaß daraus gemacht, immer weiter in den Wald zu laufen. Der Ball war längst vergessen.
Umso verwunderter waren wir, als wir plötzlich im dicksten Unterholz an ein Häuschen kamen. Es war nicht zu erkennen, dass es irgendwo von einer Straße oder einem Weg erschlossen wäre. „Knusper, knusper, Häuschen“, rief ich, „wer knuspert an meinem Häuschen“, obwohl das ja eher der Spruch der sicher darin wohnenden Hexe gewesen wäre.
Zu unserem grenzenlosen Erstaunen (gemixt mit etwas Entsetzen) ging die Eingangstür auf und eine alte Schreckschraube kam heraus. „Was’n das für ne Schreckschraube?“, flüsterte ich. Leider Gottes konnte ich noch nie besonders gut flüstern. Die Alte muss mich gehört haben. „Duuu“, wisperte sie mit Grabesstimme und deutete mit ihren knöchernen Fingern auf mich. Meine Kumpels liefen schreiend davon und ich bin mir absolut sicher, noch kurz den Geruch von Scheiße wahrgenommen zu haben.
Ich stand stocksteif und konnte mich nicht bewegen. Der Zeigefinger der Alten deutete immer noch auf mich, doch jetzt sonderte er irgendeine Art von bläulichem Nebel ab. ,Absolut ungut‘ war das, was mir dazu einfiel. Was die Alte danach erzählte, war wegen ihrer feuchten Aussprache schwer zu verstehen. Es war etwas wie „Herukgeck zehquak“. Jedenfalls hatte ich danach ebenfalls mit feuchter Aussprache zu kämpfen und befand mich etwa zehn Zentimeter über dem Erdboden.
Die Alte grinste böse und verschwand wieder in ihrem Hexenhaus. Beim langsamen Sondieren meiner Lage ohne Spiegel kam ich nach und nach zu der Erkenntnis, dass sie mich offenbar in einen Frosch verwandelt hatte. Verdammte Hühnerkacke! Ich gönnte mir einige Minuten der absoluten Panik, bevor ich mich daran machte, einen geeigneten Tümpel zu finden, in dem ich fortan mein Dasein fristen könnte.
Ich kann Ihnen sagen, das Leben als Frosch ist alles andere als nice. Man hat ständig nasse Füße, und das Essen ist noch schlechter als bei Kentucky Fried Chicken: Fliegen und manchmal, wenn man Glück hatte, irgendein Wasserkäfer. Paradoxerweise fand ich bei meinem Herumgehüpfe um den Teich unseren Fußball wieder. Wir hatten ihn doch ganz schön weit geschossen. Aber was soll ein Frosch mit einem Fußball?
Auch kam ich zu der Erkenntnis, dass die meisten meiner Mitfrösche etwas sonderbar waren. Ich weiß, das klingt jetzt arrogant, aber ich fand sie geistig etwas minderbemittelt. Man konnte sich mit ihnen weder über Geisterjäger John Sinclair, noch über die schwierige Situation des VfL Bochum in der Fußball-Bundesliga unterhalten. Das einzige, was die männlichen Exemplare unter ihnen interessierte, war im Frühjahr, sich irgendein Weibchen zu schnappen und sich auf seinen Rücken zu setzen. Na gut, hier konnte man manchmal gewisse Parallelen zu den Menschen erahnen. Aber ich schwöre, ich habe diesem Frosch-Hobby nie gefrönt. Naja, einmal vielleicht so halb. Aber vergessen wir das.
Meine Lage verbesserte sich, als ich Jürgen und Klaus-Peter kennenlernte. Nach ein bisschen freundlichem Gequake fragte mich Jürgen geradeheraus: „Gib’s zu, du bist auch kein Urfrosch. Das seh ich doch an deinen ungelenken Bewegungen. Dich hat die Schreckschraube ebenfalls verzaubert wie uns.“ Ich fiel vor Schreck auf den Rücken und streckte alle Viere von mir.
„Krieg dich wieder ein“, sagte Jürgen, „ich hoffe, du kennst das Märchen vom Froschkönig, wir müssen eine Prinzessin finden, die uns küsst. Dann ist der Quatsch hier vorbei und wir können wieder Fußball spielen.“
Ich frage Sie jetzt ganz direkt, liebe Leserin oder lieber Leser: Halten Sie es für einfach, irgendwo im Wald eine Prinzessin zu finden, die Sie küsst, wenn Sie selbst sich unglücklicherweise in der Gestalt eines hässlichen Frosches befinden?
„Vielleicht reicht ja auch eine Jungfrau – wer weiß das schon so genau?“, murmelte Klaus-Peter, als hätte er meine Gedanken gelesen. Nicht, dass das groß etwas ändern würde.
Und doch … und doch gab es so etwas wie einen minimalen Hoffnungsschimmer. Etwa 500 Meter von unserem Tümpel entfernt führte ein kleiner Weg vorbei, auf dem jeden zweiten Tag ein ganz in Blau gewandetes vielleicht 19-jähriges Mädchen ging. Und weil sie stets einen Korb bei sich trug, nannten wir sie Rotkäppchen. Wir mussten sie dazu bringen, uns zu küssen – wobei wir beteten, dass sie noch Jungfrau war.
Letztlich entschieden wir uns für grobe Waffengewalt. Ich erspare Ihnen die Einzelheiten, wie wir sie auf ihrem Weg abpassten – für uns als frisch Verwandelte fühlte sich die Strecke wie eine Weltreise an – und sämtliche Vorbereitungen, die vonnöten waren, unseren Plan in die Tat umzusetzen. Jedenfalls kam es irgendwann dazu, dass wir vor dem verdutzten Mädchen standen und ihr
„Küss uns bitte, edle Dame!“
nahelegten.
Ich hatte irgendwo im Unterholz ein kleines Spielzeuggewehr, ein Fernglas und einen Hut gefunden, Jürgen hatte sich einen Rollator gebastelt, um die 500 Meter besser verkraften zu können, und Klaus-Peter war im Krankenschwester-Look ausstaffiert. Erstens hatte er die passenden Utensilien ebenfalls im Wald gefunden, zweitens hatte er wohl irgendeinen Fetisch, über den er partout nicht sprechen wollte. Um ehrlich zu sein, wollten Jürgen und ich auch nicht darüber sprechen.
Ich weiß nicht, warum – vielleicht lag es an unserer quakenden Aussprache –, jedenfalls fing Rotkäppchen lauthals an zu lachen und sagte wohl mehr zu sich selbst: „Was ist das denn? Das habe ich ja noch nie gesehen.“ Und obwohl sie unsere mit Waffengewalt vorgetragene Bitte augenscheinlich gar nicht verstanden hatte, nahm sie uns alle drei hoch und gab uns einen kurzen Schmatzer auf den Mund – äh, das Froschmaul.
Es kam, wie wir es erhofft hatten. Mit einem „Plopp“ verwandelten wir uns in drei junge Männer. Rotkäppchen fiel augenblicklich in Ohnmacht und musste drei Wochen im Krankenhaus bleiben. Natürlich besuchte ich sie nach dem täglichen Fußball jeden Tag. Denn unter uns: Sie war recht liebreizend anzusehen, und man konnte sich mit ihr sowohl über den Geisterjäger als auch über den VfL Bochum unterhalten. Es stellte sich heraus, dass sie gar nicht Rotkäppchen hieß, sondern Sabine. Im Korb hatte sie Geldbündel, die sie alle paar Tage für schlechte Zeiten im Wald vergrub. Immer wenn ich sie danach fragte, antwortete sie nur sybillinisch: „Hast du mal Breaking Bad gesehen?“
Dafür vertraute sie mir an, warum sie uns im Wald geküsst hatte. Sie hatte ein paar Tage vorher mit ihrer Schwester darüber gesprochen, was wohl das Ekeligste wäre, was man tun könnte. Irgendwann nach langer Diskussion waren sie auf Frösche küssen gekommen. Und weil am Tag nach der Begegnung mit den drei Fröschen im Wald der Tag gewesen wäre, an dem die Schwestern sich gegenseitig beweisen wollten, dass sie das auch in die Tat umsetzen konnten, sei ihre Aktion im Wald quasi so etwas wie eine willkommene Generalprobe gewesen.
Jedenfalls kamen wir uns mit der Zeit näher, verliebten uns und heirateten nur drei Monate später. Sie gestand mir, dass sie gar keine Jungfrau mehr gewesen war, als wir uns im Wald getroffen hatten. Dafür war sie eine echte Prinzessin. Sabine Prinzessin derer von Hardenstein hieß sie (und ich jetzt auch – jedenfalls ab „derer“).
Irgendwann habe ich mich mal getraut, hinter unserem Fußballplatz gaaanz vorsichtig und leise nach unserem Hexenhaus zu suchen, es aber nicht gefunden. An einer Stelle war der Wald seltsam licht. Es hätte da gestanden haben können. Keine Ahnung, was mit der Schreckschraube passiert war. Guten Kontakt habe ich nach wie vor zu den Fröschen in unserem Tümpel. Ich laufe alle paar Tage hin und grüße die alten Genossen. Das ist immer ein großes Hallo.
Ach so, unsere Kinder: Die haben beide Schwimmhäute zwischen Fingern und Zehen <schulterzuck>