Von Bora Buonder
Langsam schälte sich Leo aus dem Laken des Betts, um die Figuren auf dem Fensterbrett umzustellen.
Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Abend mit den Froschfiguren eine neue Geschichte zu erzählen. Dabei erzählte er die Geschichten nicht richtig; er dachte sie in seinem Kopf aus.
Gestern hatte ihm seine Mutter eine neue Figur geschenkt. Der Frosch mit dem Gewehr schien zwar nicht so ganz zu den anderen zwei Figuren zu passen, die ja offensichtlich dem Leben im Krankenhaus oder Altenheim zuzuordnen waren.
Selbstvergessen platzierte Leo die Figuren vor den verblühten Orchideen. Er hörte nicht, wie die Pflegerin ins Zimmer trat und erschrak als sie ihm zuflüsterte: „Leo! Es ist Schlafenszeit! Morgen hast du einen intensiven Tag! Oh, du hast eine neue Figur erhalten!?“ Sanft strich sie dem sechsjährigen Jungen über den kahlen Kopf. „Komm! Sonst erkältest du dich noch!“
Leo ließ sich von der Kinderpflegerin ins Badezimmer führen, wo er sich die Zähne putzte. Als er wieder im Bett lag, fragte er unverhofft. „Bin ich auch erschossen worden?“
Die Krankenpflegerin schaut ihn entsetzt an: „Wie kommst du darauf?“
„Ich habe einen Frosch am Rollator. Der ist zwar älter als ich, aber ebenso krank. Dann habe ich eine Krankenschwester, die winkt, als wäre das Krankenhaus die Endstation; was für mich ja auch zutrifft. Und heute habe ich den Frosch mit dem Gewehr erhalten. Für mich hat er den Krebs im Gewehr. Er hat schon längst abgedrückt und mir die Krankheit reingeschossen. Nun werde ich daran sterben. Von irgendwo muss der Krebs ja kommen. Also kommt er von dem Frosch mit dem Gewehr.“
Die Krankenpflegerin setzt sich zu Leo an den Bettrand und schaut ihn lange an. Dann erwidert sie vorsichtig: „Deine Krankheit kommt nicht aus einem Gewehr oder von einem Frosch. Man weiß die Ursache von Blutkrebs noch nicht so genau. Aber wahrscheinlich läuft in deinem Rückenmark etwas nicht nach Plan, weshalb dein Blut zu viele von den weißen Blutkörperchen hat. Willst du mir die heutige Geschichte mit den Fröschen erzählen?“
Aber Leo war zu müde zum Erzählen. Er drehte sich von der Pflegerin weg und tat, als würde er schon schlafen.
Leise zog sie die Vorhänge und ging aus dem Zimmer. Sie wusste, dass der Junge kaum mehr als eine Woche zu leben hatte.
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