Von Monika Heil

 

 

Sommer 1956

Mein Gott, wie konnte das passieren? Es ist weg. Einfach weg. Zehn Jahre Arbeit, Schweiß, innere Verdammnis. Alles umsonst?

 

Fahrig humpelt Boris vom Schreibtisch zur Anrichte, reißt mehrere Ordner aus den Fächern, legt sie kopfschüttelnd zurück.  Wo ist die kleine schwarze Holzkiste? Ob Olga? … Nein, Olga war seit drei Tagen nicht hier gewesen und er hatte gestern noch … Oder doch schon vorgestern? Zitternd zieht er ein Taschentuch hervor und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

Zehn Jahre Arbeit, einfach weg?

Er lässt sich in seinen ausgebeulten verfransten Sessel fallen. Verzweifelt schlägt er die Hände vor das Gesicht.

„Einatmen, ausatmen“ befiehlt er sich. Vergebens. 

 

Plötzlich erinnert er sich an das schwarze Auto, das gestern an seinem Haus vorbeigeschlichen war, als er von seiner Morgenrunde zurückkehrte. Er hatte hinter einer großen Fichte gewartet und beobachtet. Das Auto hatte gedreht, war kurz stehen geblieben. Er hatte nicht erkennen können, wer am Steuer saß, ahnte es dennoch. Die Herren vom Geheimdienst statteten ihm in schöner Regelmäßigkeit einen Besuch ab. Mal nahmen sie ihn mit zu einem sogenannten Gespräch mit in die Lubjanka, mal fuhren sie nur langsam vorüber.

Waren sie im Haus gewesen, während er seinen Morgenspaziergang absolvierte? Hatten sie …? Wer hatte ihnen geöffnet? Olga wollte nach Moskau, fiel ihm ein. Sie hatte sehr geheimnisvoll gelacht,als er fragte, was sie dort vorhabe. Olga, seine geliebte Olga. Seinetwegen hatte sie zwei Jahre in jenem schrecklichen Lager verbracht, Schlimmes erlebt. Sie redete kaum über jene Zeit. Nein, Olga würde sich dem Inhalt seiner Schatzkiste nicht bemächtigen.

 

              *****

 

Als Olga den Bahnhof in Moskau erreichte, atmete sie tief durch. Würde er da sein? Konnte sie ihm vertrauen? Hatte sie für diesen Tag zwei Jahre in Baracke 11 ausgehalten? Eiskalte Wintertage,zermürbende Sommer mit 10 Stunden Feldarbeit überstanden, nur um ihre Überzeugung nicht zu verleugnen, ihre Liebe zu Boris und seinem großes Ziel zu festigen? Kam heute der Tag der Belohnung?

 

Anfangs war sie mit Boris´ Zustimmung nach Moskau gefahren. An vielen Abenden wartete er am Bahnsteig auf sie, um zu erfahren, wie die Gespräche gelaufen waren.

 

Sie war zu diversen Treffen bei Literaturzeitschriften, Verlagen und Redakteuren gefahren, hatte erklärt, was Boris nicht erklären konnte und durfte. Keiner versprach etwas. Und heute? Sie hatte Boris den Brief nicht gezeigt, hatte diesen Unbekannten aber, wie er erbeten hatte, angerufen.

„Ich suche etwas, das für Sie vielleicht von Interesse sein könnte“, hatte dieser Mensch am Telefon gesagt.

„Und was?“ Ihre Stimme war ruhig geblieben.

„Es geht um ein Buch.“ Ihr Herz hatte begonnen, heftig zu schlagen.

 

                 *****

 

Boris holte die Vodkaflasche aus dem Barfach, goss mit zitternden Fingern ein, stürzte das scharfe Getränk hinunter, füllte das Glas erneut auf.

Seine Gedanken liefen zurück. An vielen Abenden hatte er am Bahnsteig auf sie gewartet, um zu erfahren, wie ihre Treffen in Moskau verlaufen waren. An einem Abend war er mitten auf der Straße stehen geblieben und hatte sie angefahren:

„Lass es in Zukunft sein. Die werden meinen Roman um nichts in der Welt veröffentlichen.“

„Du musst Geduld haben“, hatte sie ihn beschwichtigt. „Wenn sie das Original erst in den Händen halten, werden sie begeistert sein.“

„Das ist ja der Punkt. Wenn sie den Inhalt begreifen, Sie werden es niemals zulassen. Niemals! Sie werden das Manuskript konfiszieren.“

Olga wurde klar, dass er jegliche Hoffnung verloren hatte.

„Ich glaube, wir werden beobachtet“, hatte sie abgelenkt, als sie die beiden Männer wiedererkannte, die scheinbar wartend an einer Laterne standen.

„Ich weiß. Aber das macht mir nichts aus“, hatte er mit nüchterner Stimme geantwortet. Olgas zornige Antwort erschreckte ihn.

„Ich habe denen schon gegenüber gesessen. Ich will das nicht nochmal erleben.“

„Entschuldige bitte. Wir müssen versuchen, über all das zu lachen. Mehr können wir nicht tun.“ Arm in Arm waren sie – scheinbar einträchtig – nach Hause geschlendert.

 

„Mehr können wir nicht tun.“ Ja, das hatte er gesagt und Olga hatte nicht auf ihn gehört. Sie tat mehr, viel mehr. Weil sie an ihn glaubte und an seine Mission. Aber war sie wirklich so weit gegangen und hatte seine Schatztruhe ihres wertvollen Inhaltes beraubt?

Sie hatte von einem Italiener gesprochen. Traf sie sich gerade mit ihm? Gab sie seinen wertvollsten Besitz ins Ausland? Niemals, entschied er beim dritten Glas, stand auf und suchte weiter, immer weiter.

 

                  *****

 

Sommer 1989

 

„Und so verleihen wir posthum den 1958 bereits zum ersten Mal zur Verleihung anstehenden Nobelpreis an den russischen Schriftsteller und Dichter Boris Pasternak, vertreten durch seinen heute anwesenden Sohn Jewgeni Pasternak. …