Von Andreas Schröter

Mein Zwillingsbruder Klaus und ich sind grundverschieden – „waren grundverschieden“ muss ich leider sagen, denn er ist letztes Jahr gestorben. Ich schreibe Kurzgeschichten, wie Sie sehen. Sowas hätte er als pure Zeitverschwendung angesehen. „Was verdienst Du mit einer solchen Geschichte?“, hätte er gefragt. „Gar nichts? Dann rechne Dir doch mal bitte den Stundenlohn aus.“ Dabei hätte er auf seine übliche freudlose Art gegrinst.

Schon als Kind war Klaus von Ehrgeiz zerfressen. Er wollte immer besser sein als ich. Wenn ich in der Schule in Deutsch eine 2 bekam und er nur eine 3, blieb er für eine ganze Woche unausstehlich. Vielleicht hing sein Wesen mit unserem Vater zusammen, der offenbar an mir einen Narren gefressen hatte, ihn dagegen bei jeder Gelegenheit kritisierte. So sagte er beispielsweise: „Schau mal, wie viel Fantasie der Jochen hat, Deine Bilder wirken dagegen, als hätte sie ein Dreijähriger gezeichnet.“ Ich sah, wie Klaus nach solchen Bemerkungen die Tränen in die Augen traten, wie er aber zugleich die Fäuste ballte.

Der Kampf um die Gunst unseres Vaters hielt sehr lange an, ohne dass Klaus dabei größere Erfolge erzielt hätte. Ich hatte nicht nur bessere Noten als er, sondern fand auch leichter Freunde. Ich hatte längst eine feste Freundin und einen Führerschein, als bei Klaus an beides noch nicht im Entferntesten zu denken war. Sein Gesichtsausdruck – halb Tränen in den Augen, halb unsagbar wütend – blieb mehr oder weniger während seiner gesamten Kindheit und Jugend bestehen.

Eigentlich habe ich ihn nur einmal richtig glücklich gesehen. Unser Opa schenkte uns etwas, was schon damals wie aus der Zeit gefallen wirkte: ein Säckchen mit Murmeln. Mit sowas spielten doch eher Kinder vor 100 Jahren, oder nicht? Wir müssen so drei oder vier Jahre alt gewesen sein. Jedenfalls rannten wir sofort zu einem großen Ding aus Stein, das bei uns um die Ecke in einem Park stand. Es war halb Kunstwerk, halb Spielzeug – ein stilisierter Pfau, in dessen Schwanz sich kleine Bahnen befanden, durch die man die Murmeln kullern lassen konnte. Aus was für Gründen auch immer hatte Klaus eine unbändige Freude, wenn die Murmeln durch diese Bahnen rollten, ohne zwischendurch irgendwo hängenzubleiben. Er strahlte mich an und lachte unbändig.

Nach unserem Abi, das Klaus nur mit Hängen und Würgen geschafft hatte, änderte sich vieles: Ich ging zur Uni und studierte Germanistik, Klaus begann eine Lehre als Klempner. Drei Jahre später erlitt unser Vater einen komplizierten Beinbruch, der ihn zwang, beruflich kürzerzutreten. Er war selbstständiger Heizungsinstallateur. Klaus stieg in die Firma ein und stellte schnell fest, dass es ihr schlecht ging. Vater muss schon seit Jahren am Rande der Insolvenz getaumelt haben, ohne uns oder unserer Mutter etwas davon gesagt zu haben.

Weil Vater auch nach einem halben Jahr noch nicht wieder richtig auf den Beinen war, riss Klaus die Führung mehr und mehr an sich. Er entließ die Hälfte der Belegschaft, überredete eine Bank, ihm einen größeren Kredit zu geben, damit er die Firma von Grund auf sanieren konnte. So führte er die Digitalität im Büro ein und besuchte eine Schulung nach der anderen, um sich auf den allerneuesten Stand der Heizungstechnik zu bringen. Das alles hatte zunächst wenig Erfolg, und das Aus der Firma plus einem riesigen Schuldenberg standen mehr und mehr im Raum. Kein Tag verging, an dem sich Vater und Klaus in der Küche nicht lautstark anschrien.

Mir wurde es zu Hause zu ungemütlich und ich zog aus, obwohl ich mein Studium noch nicht gänzlich beendet hatte und ich es im Haus meiner Eltern eigentlich recht komfortabel hatte.

In den Folgejahren hatte ich nur selten Kontakt zu meinem Bruder, doch was ich auch aus der Distanz mitbekam, war, dass es mit der Heizungsfirma, die Klaus mittlerweile offiziell von unserem Vater übernommen hatte, langsam bergauf ging. Klaus‘ Modernisierungen griffen, und die Kunden wussten offenbar genau das zu schätzen. Als Wärmepumpen immer mehr im Kommen waren – ein Spezialgebiet der Firma – konnte sich Klaus kaum noch vor Aufträgen retten. Er musste seine Belegschaft verdoppeln.

Nach meinem Studium fand ich keinen Job, doch plötzlich stellte ich fest, dass auf mein Konto monatlich zuverlässig ein Fixbetrag von 2000 Euro einging. Klaus unterstützte mich. Ich hätte das Geld zurückweisen können, doch die Sozialhilfe, die ich erhielt, war so dürftig, dass ich es letztlich nicht fertigbrachte, das Geld auszuschlagen. Und ich schämte mich dafür. War es reine Gutwilligkeit von Klaus oder auch eine Art Demütigung mir gegenüber? Die Antwort erhielt ich am folgenden Weihnachten. Als unsere gegenseitige Bescherung fast vorbei war, legte Klaus noch ein winziges Schächtelchen auf den Tisch vor unserem Vater. Darin befand sich ein Autoschlüssel der Wohnmobil-Marke Niesmann + Bischoff. Jetzt wusste ich auch, warum ein solches Gefährt vor dem Haus parkte. Modelle dieser Sorte kosten 140.000 Euro aufwärts. Meine Eltern hatten zeitlebens von einem eigenen Wohnmobil geträumt. Ich selbst hatte meinem Vater einen gut erhaltenen Bildband über Wale geschenkt, den ich im Antiquariat für 20 Euro erstanden hatte. Klaus lächelte sein freudloses Lachen. Fast wirkte der Blick, mit dem er Vater betrachtete, zynisch und angriffslustig. Der Beschenkte murmelte ein kurzes Danke, legte den Schlüssel zur Seite und erwähnte das Geschenk den ganzen Abend nicht mehr.

Ich zog in eine andere Stadt, 300 Kilometer entfernt von meinem Elternhaus, fand einen Job als Deutschlehrer an einem Gymnasium, heiratete und bekam zwei Kinder. Seine monatlichen Hilfszahlungen brauchte ich nun nicht mehr. Mit Klaus hatte ich so gut wie keinen Kontakt. 

Das änderte sich etwa ein Vierteljahrhundert nach jenem Weihnachtsfest. Meine Eltern waren beide gestorben, und bei Klaus, der immer noch alleinstehend war, wurde ein bösartiger Tumor entdeckt. Er brauchte Hilfe. Wir verkauften die Heizungsfirma für einen sensationell hohen Erlös, von dem wir beide und meine Familie bis an unser Lebensende ohne Sorgen würden leben können. Ich nahm ein Sabbatjahr und holte Klaus in meine Nähe. Der Krebs schritt schnell fort, sodass er irgendwann in einem Hospiz besser versorgt werden konnte als in seiner kleinen Wohnung, die er gemietet hatte.

Es ist jetzt ein Jahr her, dass es galt, sich von Klaus zu verabschieden. Die Ärzte gaben ihm eine Lebenserwartung von nicht mal mehr zwei Wochen. Er lag im Bett, als ich ihn zum letzten Mal sah, und ich hatte einen Stuhl davor gestellt, auf den ich mich setzte. Seine Augenlider fielen immer wieder zu. Er dämmerte mehr vor sich hin, als dass er wirklich wach war und seine Umgebung wahrnahm. Irgendwann schien wieder etwas mehr Leben in ihn zu kommen und er nahm meine Hand – etwas, das er noch nie zuvor im Leben getan hatte. Dann bewegte er die Lippen. Offenbar wollte er etwas sagen. Ich musste mein Ohr nah an seinen Mund bringen, um ihn zu verstehen. Er sagte: „Hast Du die Murmeln noch? Ich würde so gerne noch einmal mit ihnen spielen.“ Und dann immer wieder: „Hast Du die Murmeln noch? Hast Du die Murmeln noch?“

Ich hatte sie nicht mehr.

Am folgenden Abend starb Klaus.

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 Inspiriert von dem Orson-Welles-Film „Citizen Kane“

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