Von Eva Fischer
Es ist Freitag, 16 Uhr. Die Menschen haben es eilig, das Gebäude zu verlassen. Ich kenne sie mittlerweile alle.
Die Frau mit der asymmetrischen Frisur. Rechts hat sie mahagonifarbene Wellen, links ist sie glatt geschoren. Das frei gelegte Ohr ist gespickt mit Nadeln. Piercing nennt man das wohl. Sie packt sich ihr Täschchen und sprintet mit ihren langen Beinen los, als müsse sie sich vor einer ansteckenden Seuche in Sicherheit bringen.
Wo mag sie wohl wohnen? In einem Hochhaus oder in einem Altbau? Gibt es da noch einen Bäcker im Viertel? Eine Boutique? Einen Friseur? Wohnt nebenan eine freundliche Nachbarin, mit der sie einen kleinen Plausch über den Büroalltag führen kann? Vielleicht ist sie heute Abend mit einer Freundin zum Kino verabredet?
Vielleicht entscheiden sie sich aber auch für die Disco? Und die Asymmetrische trägt enge Leggins und einen knappen Pullover, um der Männerwelt einzuheizen?
Ist sie verheiratet oder ledig? Ledig! Welch altmodisches, jungfernhaftes Wort! Verheiratet heißt nicht automatisch glücklich sein, ledig bedeutet nicht unbedingt Einsamkeit.
Ich seufze. Ich bin keine Privatdetektivin. Auch wenn ich viel Zeit habe, werde ich mich doch mit meinen „Phanatasiegeschichten“ begnügen müssen.
Es ist erstaunlich, wie schnell sich das Gebäude leert. Keine zehn Minuten und die Handvoll Mitarbeiter ist verschwunden, wie ich mit einem Blick auf die Uhr konstatiere. Einen Feueralarm brauchen die nicht mehr zu üben, denke ich.
Die Uhr tickt im Hintergrund. Das wird das einzige Geräusch sein, das mich am Wochenende begleiten wird.
Ich schaue auf das leere Büro, die verwaisten Containerhallen, in denen sich Elektrogeräte aller Art verbergen, die jetzt in ihren Wochenendschlaf versinken. Otto wird Punkt zehn mit seiner Schäferhündin Alexa noch mal die Runde machen und mir freundlich zuwinken.
„Sie wissen Frau Janitschek, Sie können mich jederzeit anrufen, wenn Sie etwas Verdächtiges bemerken.“
Ich habe seine Handynummer. Auch wenn ich schon über achtzig bin, heißt das nicht, dass mich das digitale Zeitalter komplett abgehängt hat. Otto ist eigentlich ganz nett. Ich habe ihn schon mal auf ein Bier eingeladen. Er gibt mir nicht das Gefühl, ein übriggebliebenes Fossil zu sein, das früher oder später entsorgt wird. Nein, er kann nichts für die Lage, in der ich mich befinde.
Mein Haus ist das einzige, das noch steht. Alle anderen wurden vor zwanzig Jahren abgerissen und durch Werkshallen und Büros ersetzt. Wenn ich also aus dem Fenster sehe, schaue ich auf seelenlose Betonwände. Kein Baum, kein Strauch kann hier wurzeln, höchstens etwas Unkraut. Löwenzahn ist die einzige Blume, die noch hier blüht, nur vom Staub der Lkws bestäubt.
*
Geboren wurde ich am 13. Mai 1937 in einer Bergbausiedlung. Es war von Anfang an das Paradies für mich, auch wenn das Klo auf der Zwischenetage war und die Räume sehr klein. Aber es gab einen Garten, in dem meine Mutter Gemüse anbaute und einen Stall mit Kaninchen. Die Population blieb immer gleich, selbst wenn sie Junge bekamen. Das Rätsel habe ich erst später gelöst. Trotz des Krieges litten wir keinen Hunger. Mein Vater wurde nicht eingezogen aufgrund seiner kriegswichtigen Tätigkeit in der Zeche. Er starb in den fünfziger Jahren. Auch Staublunge kann tödlich sein. Meine Mutter setzte durch, dass sie dort wohnen bleiben durfte. Sie arbeitete als Verkäuferin in einer Bäckerei und konnte pünktlich ihre Miete bezahlen.
Ich machte eine kaufmännische Ausbildung und fand eine Anstellung als Schulsekretärin. Georg war Deutsch- und Geschichtslehrer. Er kam oft ins Sekreteriat, hatte immer neue Fragen, was die Verwaltung betraf, und bewunderte meine selbstgeschneiderten, taillierten Kleider. Schließlich lud er mich ins Café ein und das Schicksal nahm seinen Lauf. Geheiratet haben wir 1960.
Ende der sechziger Jahren, als die Schließung der Zechen schon in Sicht war, wurden die Bergbauhäuschen zum Kauf angeboten und Georg zögerte nicht lange. Er war ganz vernarrt in die kleinen Häuschen mit Garten, die sich um einen Platz rankten, wo Kinder noch spielen konnten, ohne dass sich die Eltern Sorgen machen mussten, dass ihre Kleinen unter das Auto kamen. Außerdem eigneten sich die Plätze zu gemeinsamen Frühlings- und Sommerfesten. Natürlich dienten sie auch als Klatschbörse.
Georg ließ ein Bad mit Toilette einbauen, so dass das alte Haus durchaus modernen Standards genügte. Es folgte eine wunderbare, sorgenfreie Zeit. Ich bekam zwei Kinder, zwei Jungen.
Wann und wie genau passierte es, dass dieses Glück Risse bekam wie die Wände? Nicht alle Häuser der Bergbausiedlung fanden Käufer und auch die Mieter zogen aus, nachdem die Zeche endgültig geschlossen wurde. Hatte es in unmittelbarer Nähe einen Supermarkt gegeben, einen Bäcker, einen Metzger, einen Friseur, so wurden diese nach und nach geschlossen. Die leerstehenden Häuser wurden abgerissen und das Gelände lag brach. Fünf Häuser um ein Karree hielten als einzige die Stellung, darunter wir.
„ Du wirst sehen, Maria! Die werden bald hier Bungalows bauen für die Städter und dann klappt das auch wieder mit der Infrastrukur“, tröstete mich mein Mann. Leider behielt er nicht Recht. Das Viertel verödete weiter zusehends.
Mit schzig Jahren wurde ich Witwe. Nun wohnte nur noch die zehn Jahre ältere Waltraud neben mir in ihrem Häuschen. Der Bebauungsplan sollte geändert werden. Man brauchte ein Gewerbegebiet.
Eines Tages standen zwei Männer in grauen Anzügen vor unserer Tür. Sie boten uns 50 000 Mark für unsere Häuser an. In der Hauptstadt wären sie das Vierfache wert gewesen.
„Ziehen Sie doch auch in die Stadt!“, schlugen sie vor. „Dort können Sie shoppen und sich einen schönen Lebensabend machen.“
„Ich soll mich in eine Zweizimmerwohnung quetschen, wo ich ein Leben lang nur die Tür aufmachen musste, um auf eigenem Grund und Boden zu stehen?“, empörte ich mich.
„Schauen Sie sich diese Schmuckstücke hier an. Sie wurden mit Herz konzipiert, nicht so seelenlos wie diese anonymen Wohnblocks, wo keiner den anderen kennt.“
Die Männer zogen unverrichteter Dinge wieder ab. Waltraud und ich blieben. „Die eisernen Ladys“ nannten sie uns in der Presse, brachten sogar ein Foto von uns im Lokalteil. Auch das ist schon lange her. Waltraud bekam einen neuen Feind. Krebs. Gegen ihn verlor sie leider den Kampf. Seither halte ich allein die Stellung. Mag sein, dass ich in den Augen der anderen eine falsche Entscheidung getroffen habe. Ich bereue jedenfalls nichts.
*
„Frau Janitschek, dürfen wir Sie mal sprechen? Wir sind vom Kulturamt.“
Ich mustere die sympathisch wirkenden jungen Leute. Selbstverständlich habe ich ihre Legitimation übergeprüft. Ohne ein gesundes Misstrauen überlebt man nicht in der Einöde.
„Ich verkaufe nicht. Das sage ich Ihnen gleich“, stelle ich klar.
„Nein, nein, wir wollen nicht, dass Sie verkaufen. Ganz im Gegenteil.“
Ich runzle die Stirne. Was soll denn das Gegenteil sein?
„Wir bewundern Ihre Haltung“, sagt der junge Mann, der mein Enkel sein könnte.
„Wir möchten Ihnen ein Denkmal setzen.“
„So wie anno Tobak Kaiser Wilhelm, Marx und Stalin oder wie die Deppen alle heißen! Sie wollen mich wohl verarschen!“ Ich spüre, wie mein Blutdruck nach oben schnellt.
„Ich fürchte, mein Kollege hat sich missverständlich ausgedrückt“, kommt ihm die junge Dame zu Hilfe. Ihre Locken verteilen sich tatsächlich symmetrisch um ihr Gesicht.
„Wir möchten dieses schöne Haus erhalten, es vor dem Verfall schützen, um es der Nachwelt zu präsentieren. Wir haben einen Investor, der die Kosten für eine Renovierung übernimmt.“
„Zum Nulltarif oder was?“, blaffe ich die Lady an.
„Genau! Langfristig haben wir allerdings an ein Museum gedacht. Vielleicht könnten Sie einmal im Monat eine Schulklasse durch das schöne Haus führen, etwas von seiner Geschichte erzählen. Sie waren doch mal in der Schule tätig, oder?“
Ich denke an Georg, dem diese Idee sicherlich gut gefallen hätte, und schaue auf die Truhe, in der meine Großmutter einst ihre Aussteuer verwahrt hat. Jetzt befinden sich in ihr Fotoalben und die Tagebücher meines Mannes. Als Historiker legte er stets wert darauf, die Ereignisse zu dokumentieren.
Ich denke an das Foto von Lisbeth, auf dem sie uns stolz ihren neuen Hut präsentieren wollte. Leider trug sie ihn falsch herum.
Oder als Onkel Andreas ein Schwein schlachtete. Unser Sohn Patrick lächelt stolz in die Kamera mit der blutenden Leber in der Hand. Die anderen Kinder wollten ihm einen Streich spielen, aber der spätere Arzt war fasziniert und keineswegs geschockt von den inneren Organen.
Oder als der Rhein zugefroren war und die ganze Siedlung fröhlich und von ein paar Schnäpschen aufgewärmt über das Eis schlingerte.
Oder…
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