Von Helmut Blepp

 

Es war Juli. Brütende Hitze lähmte die Stadt. Ich verließ kaum das Haus und verbrachte viel Zeit am Schreibtisch, aber an Arbeiten war nicht wirklich zu denken. Als der Anruf kam, spielte ich gerade lustlos Solitaire. Es war die Polizei.

„Wir haben einen Wohnungslosen aufgegriffen, der sich Charlie nennt. Er trägt einen Mantel, in dessen Futter ein Schildchen mit Ihrem Namen eingenäht ist. Wurde Ihnen der Mantel gestohlen?“

„Nein, nein! Das ist schon in Ordnung. Es war ein Geschenk.“

„Dann kennen Sie den Mann also. Würde es Ihnen etwas ausmachen, bei der Wache vorbeizukommen?“

Widerwillig sagte ich zu und machte mich gleich auf den Weg, um die Sache hinter mich zu bringen. Die Klimaanlage in meinem Wagen tat ihr Bestes, doch als ich an der Polizeiwache ausstieg, nahm mir die heiße Luft fast den Atem. Noch bevor ich das Gebäude betreten hatte, war mein Hemd bereits schweißgetränkt.

„Wir wurden in den Schlosspark gerufen wegen eines Exhibitionisten“, erklärte der Beamte. „Ein Mann in langem Wintermantel, unter dem er nackt sei, habe sich vor einer Spaziergängerin entblößt.“

Er führte mich in einen Verhörraum, und da saß Charlie. Der arme Kerl blickte nicht auf, als wir eintraten, wirkte völlig apathisch.

Ich nahm ihm gegenüber Platz.

„Hallo, Charlie“, sprach ich ihn an. „Erkennst du mich noch?“

Er nickte, ohne mich überhaupt angesehen zu haben.

„Was ist denn passiert, Charlie? Stimmt es, dass du dich nackt gezeigt hast im Park?“

„Ich musste mal“, sagte er leise und hob den Kopf, „aber die Toiletten am Kiosk waren zu.“

Als sei diese Antwort eine große Anstrengung gewesen, sackte er wieder in sich zusammen und reagierte nicht mehr auf weitere Ansprache. Ich schaute den Polizisten an. Er zuckte mit den Achseln und forderte mich mit einer Geste auf, mit ihm den Raum zu verlassen.

„Ich glaube ihm das“, sagte ich draußen. „Er ist völlig harmlos.“

„Kann sein, aber wir müssen der Sache nachgehen.“

„Und was geschieht jetzt mit ihm?“

„In seinem Zustand können wir ihn nicht einfach laufenlassen. Wir werden ihn erst mal in die Psychiatrie bringen. Die werden schon wissen, was zu tun ist. Danke, dass Sie sich herbemüht haben.“

 

Ich hatte Charlie im letzten Herbst kennengelernt. Er trat mir damals bei einem Spaziergang im Schlosspark in den Weg. Ich zuckte zunächst vor dem strengen Geruch zurück, der von den Klamotten ausging, die schlackernd seinen dürren Leib bedeckten. Entgeistert schaute ich in dieses Gesicht, jung noch, doch ausgemergelt, die Augen wässrig blau und uralt.

Ein Schnorrer, dachte ich, fragt bestimmt gleich nach ein paar Münzen. Das tat er aber nicht.

„Alles ist so schwer“, sagte er unvermittelt. „Das kannst du dir gar nicht vorstellen. Meine Zeit vergeht. Ich wache oder schlafe, manchmal beides in einem. Als einzige Mahlzeit ist mir nur die immer gleiche Steinsuppe geblieben. Mit ihr im Magen schleppe ich mich Tag für Tag durch die Stadt.“

Auch noch verwirrt, stellte ich fest. Die Situation war mir unangenehm. Ich wollte da weg. Also zückte ich einen kleinen Geldschein und hielt ihn ihm entgegen. Zu meinem Erstaunen winkte er ab.

„Nein, vielen Dank! Ich brauche kein Geld. Ins Asyl gehe ich nicht mehr. Dort habe ich nächtelang Mulden in die Matratzen gewälzt, so dass ich mich morgens schämen musste. Ich bin einfach zu schwer für ein Bett.“

Zu schwer, so mager, wie er war? Ich verkniff mir einen Kommentar.

Ungeduldig wedelte ich mit dem Geld. Er nahm es eher widerwillig. Ich ging grußlos weiter.

 

Einige Tage später war er mir erneut begegnet. Ich hatte eine Verabredung im Schlosscafé und war spät dran. Er schlurfte in Höhe der Orangerie über den Kies und blieb direkt vor mir stehen.

„Wenn ich einen Monolith aus der Felswand schneide, tut es uns beiden weh. Wenn der Regen fällt, trifft er uns. Wenn die Sonne scheint, wärmt sie uns. Aber wenn der Wind pfeift, macht er mich so rau wie ihn. Meine Hände bröckeln dann.“

Er hob seine Arme. Ich bemerkte, dass er offenbar immer noch den Geldschein von mir in seiner Linken hielt.

„Gneis zu sortieren“, fuhr er fort, „durch das ständig scheppernde Sieb, ist kein Tagewerk für einen Mann. Die Steine machen den Kopf so schwer, dass ich ihn kaum halten kann.“

„Verzeihung“, versetzte ich unwirsch, „ich bin in Eile.“

Zögernd trat er zur Seite, und ich hastete vorbei.

 

Ich hatte ihn schon fast vergessen, als ich ihn Wochen später am Parkkiosk traf. Er hielt einen dampfenden Becher Kaffee zwischen seinen Händen und trank vorsichtig. Obwohl es zwischenzeitig kalt geworden war, trug er noch immer nur die dünne verschmutzte Jacke.

„Ich musste einfach weg von ihr“, setzte er ein Gespräch fort, das er zuvor anscheinend mit sich selbst geführt hatte. „Ich konnte das nicht mehr aushalten. Ihr Kieselkopf an meiner Schulter war eine bedrückende Last.“

Er schaute mich an, als erwarte er eine Reaktion.

„Verstehe“, sagte ich spontan, obwohl ich überhaupt nichts verstand.

„Ihre Granitzunge war mir eine Qual. Ich erstickte unentwegt an ihrem Kuss. Man kann doch nicht leben mit dieser ganzen Schwere um sich und in sich.“

Jetzt trat er verunsichert von einem Fuß auf den anderen.

„Das Leben ist manchmal schwer, aber wir müssen lernen, das zu akzeptieren.“

Mir war keine geistvollere Entgegnung eingefallen, und, kaum ausgesprochen, bedauerte ich diese Plattitüde, mit der er offensichtlich überfordert war. Er neigte den Kopf nach links, schien eine andere Perspektive zu suchen, während sein Blick unverwandt auf mich gerichtet blieb. Dann lächelte er plötzlich.

„Auf dem Mond ist alles viel leichter“, ließ er mich wissen.

„Die Schwerkraft ist dort geringer als auf der Erde“, bestätigte ich, doch er hörte mir gar nicht zu.

„Auf dem Mond“, sprach er unbeirrt weiter, „hätte ich sie tragen können von Meer zu Meer.“

Dieser Gedanke berührte mich, denn obwohl er völlig irrational war, besaß er eine tröstende Schönheit. Und es war kaum zu glauben, dass diese Schönheit aus dem verwahrlosten jungen Mann strömte, der fröstelnd vor mir stand.

Ich kaufte noch zwei Becher Kaffee und blieb bei ihm stehen. Es tat mir gut, ihm zuzuhören. Er wusste alles über diese Schwere.

Am nächsten Tag habe ich ihm meinen abgelegten Wintermantel gebracht. Er schlüpfte sofort hinein und verkündete mit einem kindlichen Lächeln: „Eine zweite Haut! Das hat es gebraucht, um so viel Schwere auszuhalten.“

 

Danach sah ich ihn nicht wieder bis zu dem kurzen Treffen auf der Polizeiwache. Und was dann mit ihm geschehen war, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Ich hatte zwischenzeitig die Wache angerufen, um mich über seinen Verbleib zu erkundigen, erhielt aber keine Auskunft aus Gründen des Datenschutzes. So konnte ich nur darüber spekulieren, ob er in psychiatrischer Behandlung war oder womöglich im Gefängnis.

Erst im folgenden Oktober traf ich ihn wieder im Park. Er trug nur die dünne Jacke. Den Mantel hatte ihm jemand an seinem Schlafplatz gestohlen.

„Ohne meine zweite Haut ist alles noch schwerer geworden. Ich spüre wieder diesen steinigen Schmerz.“

„Du kannst so nicht länger herumlaufen“, sagte ich ihm. „Der Winter steht vor der Tür. Geh doch zur Kleiderkammer der Caritas. Da kriegst du sicher einen anderen Mantel oder einen dicken Anorak.“

Aber er hatte sich schon wieder verloren, stimmte unvermittelt einen monotonen Gesang an.

„O Caritas, O Karies, O Caritas…“

Unentwegt sang er das jetzt leise vor sich hin. Er nahm mich offenbar gar nicht mehr wahr und ging irgendwann einfach weg.

 

Als der erste Schnee kam, blieb ich dem Park einige Zeit fern. Eines Morgens aber führte mich eine Eingebung zum Kleiderschrank. Ich musste nicht lange darin suchen. Mein alter Dufflecoat hing ganz links auf einem Bügel, eingemottet unter einer Schutzfolie. Zusammengelegt packte ich ihn in eine Sporttasche und machte mich in der Dämmerung auf den Weg zum Schloss. Es war bitterkalt. Ein scharfer Wind blies mir ins Gesicht. Meine Hände waren trotz der Handschuhe klamm.

Als ich am Kiosk eintraf, entdeckte ich den jungen Mann sofort. Er saß auf einer der Bänke, die im Sommer von Rentnern belagert waren. Sein Kopf war in den Nacken gefallen. Man konnte meinen, er schaue hoch zum Mond. Doch das tat er nicht.

Gewiss war er in der Nacht erfroren. Es musste schon vor Stunden geschehen sein, denn auf seiner dünnen Jacke und seinem Gesicht hatte sich bereits Raureif gebildet.

„Kannten Sie ihn?“, fragte mich später einer der Polizeibeamten.

Ich schüttelte den Kopf.

„Nein, nicht wirklich. Aber ich weiß, dass er es sehr schwer gehabt hat.“

Ich verfolgte, wie die Männer von der Ambulanz den Leichnam bargen. Sie hoben ihn vorsichtig an, und einen Moment schien es mir, als hätten sie dabei sehr große Mühe.