Von Barbara Herrermann

 

Charly heißt man hierzulande nicht.

Und eigentlich hieß er ja Ernst-August.

Seine Mutter war nämlich zeitlebens eine glühende Anhängerin der Adelsgeschlechter und Königshäuser gewesen, sie hatte einen nicht unerheblichen Be(i)trag zum Erhalt der Regenbogenpresse bis zu ihrem Ableben gerne geleistet. Glücklicherweise zeigte sich „der Bub“ aber gefeit gegen blaublütige Attitüden.

Und Ernst-August heißt man eigentlich sowieso auch nicht.

 

Glücklicherweise hat der Mensch auch einen Nachnamen.

In diesem Falle „Braun“. Ernst-August Braun also.

Mit fortschreitendem  (Lese-)Alter wurde aus dem „Ernstl“ unausweichlich und folgerichtig also der „Charly“. Charlie Brown, ungekrönter (Comic-)Held der bezaubernden, ewig jungen Peanuts.

Wobei natürlich auch Charlie, ein nachdenklicher und bescheidener Typ, eine Vorbildfunktion übernahm.

Charly war kein unbeherrschter Draufgänger, sondern ein ruhiger und überlegter Mensch.  Er wog ab, was er tat, war hilfsbereit und zuverlässig, manchmal auch etwas schwerfällig und langsam. Sein Freundeskreis war überschaubar und seriös.

 

In späteren Jahren, bereits weit über fünfzig , fand Charly eine Partnerin, ein spätes Glück.

Erika war wie er ein ruhiges Gemüt, zugänglich, ein offener Mensch, gleichaltrig mit ihm.

Wenn zwei Menschen sich in diesem Alter begegnen, trägt jeder logischerweise schon ein gutes Stück gelebtes Leben mit sich herum. Gewohnheiten, die man nicht aufgeben mag. Vorlieben, die einem wichtig sind. Eine Herkunftsfamilie, die einen vereinnahmt hat. Ohne guten Willen, ohne Kompromisse, ohne gegenseitige Wertschätzung wird ein Zusammenleben kaum möglich werden.

 

Charly und Erika beschlossen darum, es erst einmal mit getrennten Wohnungen zu versuchen. Jeder blieb, wo er war. Die Verbindung entwickelte sich gut, eine vertrauensvolle Partnerschaft entstand und irgendwann wuchs der Wunsch nach mehr und ständiger Nähe.

„Schatzi“, sagte Erika und streichelte sanft über Charlys Arm, „was  hältst du davon, wenn du zu mir ziehst und deine Wohnung aufgibst? Wir sind uns näher und sparen dabei auch noch Geld!“ Charly umfasste die streichelnde Hand, drückte sie fest und meinte: „Das wollen wir gut überlegen und dann eine Entscheidung treffen.“

Erikas Wohnung war größer als seine und viel zentraler gelegen.

Die Abwägung fiel auch deshalb zu ihren Gunsten aus.

 

Doch vor jedem Neuanfang steht die Abwicklung des Vorhandenen …

Unglaublich, was sich im Laufe der Jahre angesammelt hatte!

Es würde einiges entsorgt werden müssen.

Erika war so klug, ihn dabei weder zu bedrängen noch zu unterstützen.

 

Charly hätte nie gedacht, dass ihn der Umzug so tief in die Vergangenheit eintauchen lassen würde! Manchmal fühlte er sich regelrecht wie unter Wasser gedrückt und musste um Atem ringen. Dokumente, Bilder, Haushaltswaren, Erinnerungsstücke – egal, in welchem Raum er kramte, ob Küche, Bad oder Wohnräume, überall erhoben sich die Geister der Vergangenheit. Kein Wunder, dass er nicht vorankam und Erika eines Tages beschloss, ein paar Tage Urlaub außerhalb zu machen.

„So beschäftigt, wie du bist, wirst du mich bestimmt nicht vermissen.“

Charly verstand das sehr gut.

Es war mittlerweile August geworden und die Sonne brütete über der Stadt.

Das Räumen ging ihm inzwischen auch selbst ziemlich auf die Nerven, aber als ordentlicher und pflichtbewusster Mensch konnte er kaum alles stehen und liegen lassen …

 

Er öffnete alle Fenster in seiner kleinen Wohnung, damit wenigstens ein wenig Luftzug den Anschein von Kühlung erweckte, und trottete in das Schlafzimmer.

Heute hatte er sich vorgenommen, den Kleiderschrank zu durchforsten und zu entrümpeln. Der war nämlich so voll, dass Charly den Überblick über brauchbar und unbrauchbar komplett verloren hatte. Also schaufelte er mit beiden Händen alle Fächer, Ablagen und die Kleiderstange leer und warf alles auf Bett und Boden. Dann stakste er über den Haufen und versuchte, die Kleidungsstücke zu entwirren und zu sortieren.

Du liebe Güte, was sich da über die Jahre angesammelt hatte!

Er hatte ja auch nie etwas weggeworfen, sondern auf gute Qualität geachtet – bestimmt war alles noch tragbar …

An jedem Kleidungsstück hing dazu eine Erinnerung.

Die Schlaghose, die er bei seiner ersten Party getragen hatte.

Die Baseballkappe, die er auf der Abiturfahrt in Frankreich erstanden hatte.

Der Tiroler Hut, den Mama ihm bei einem gemeinsamen Ausflug nach Salzburg aufgedrängt hatte.

Der Kleiderberg war unermesslich.

Die Erinnerungen ebenso.

 

Von unten schimmerte etwas Blaues durch.

Charly kramte. Die Kleiderberge verlagerten sich.

Da war es, das Blaue.

Charly hielt das Teil hoch.

Lieber Himmel, ein hellblauer Daunenmantel!

„Ernstl,“ hatte die Mama geflüstert und den Mantel in der Auslage voll Ehrfurcht betrachtet, „Ernstl, grade so einen hat der Ernst-August in der letzten Ausgabe vom Goldenen Blatt auch ang´habt! Nach´m Skifahr´n geht´s zur Jause, stand dabei. Ernstl, der würde dir auch gut stehen! Da wärst wie ein Enkel vom Kaiser!“

Die Mama war so voll Enthusiasmus und Ehrfurcht gewesen … Er hatte den Mantel gekauft. Für die Mama zur Freude. Getragen hatte er ihn nur, wenn er sie besuchte. Und das war ja nun auch schon eine Weile her …

 

Charly schüttelte den Mantel. Er schien noch einwandfrei zu sein.

Vielleicht wäre es ja möglich, ihn über Ebay-Kleinanzeigen anzubieten?

Charly erinnerte sich, dass der Mantel seinerzeit sündhaft teuer gewesen war, Daunenmäntel waren damals nicht für´s „einfache Volk“ konzipiert.

Ob der Himmelblaue ihm überhaupt noch passte?

Rasch schlüpfte er hinein. Der Mantel hatte keine Knöpfe, sondern wurde mit einem Reißverschluss zugemacht. „Schon irgendwie praktisch im Winter,“ dachte Charly. „Mit kalten Händen knöpft sich´s schlecht.“ Er besah sich im Spiegel. „Naja,“ grinste er sein Spiegelbild an, „da hast du doch einiges an Pfunden zugelegt. Ich seh ja aus wie eine himmelblaue, dicke Wurst.“ Er lachte schallend und zog an dem Reißverschlusszipper, um den Reißverschluss zu öffnen.

Oha.

Da bewegte sich nichts.

Da klemmte doch was!

Charly zog an dem Zipper. Nach oben ging´s. nach unten nicht.

Der Reißverschluss war mittlerweile an seinem Adamsapfel angelangt und drückte äußerst unangenehm, ja geradezu schmerzhaft, auf den Adamsapfel.

Charly fühlte leichte Panik in sich aufsteigen.

Sein Thermometer zeigte fünfunddreißig Grad im Schatten, der Schweiß lief ihm in Strömen Gesicht und Rücken hinunter, der Reißverschluss drückte ihm die Luft ab und er stand hier alleine und wusste sich nicht zu helfen.

Was für eine üble Situation!

Erika war nicht erreichbar.

Freunde hatte er in der Nähe keine.

Er hatte die Wahl zwischen Wutausbruch (Ernst-August) oder ruhiger Überlegung (Charlie Brown).

Nun ja.

 

Die Straße war wegen der Hitze nur schwach belebt.

Die wenigen Passanten allerdings glaubten an eine Fata Morgana, als eine stöhnende, wahrscheinlich männliche Person mit hochrotem Kopf, gewandet in einen himmelblauen Daunenmantel, an ihnen vorübereilte.

Wie immer war es ein Kind, das den Zustand ansprach, in der Straßenbahn mit dem Finger auf Charly zeigte und krähte: „ Warum mag der komische Mann so gern schwitzen?“

Es gibt Situationen, da stellt selbst ein Mann den Überlebenswillen über seine Ehre … Charly verzichtete auf Aufklärung respektive Rechtfertigung, er strebte nur nach einem Ziel …

 

Als er endlich in der Innenstadt die Straßenbahn verlassen konnte, verschwitzt, überhitzt, durstig und am Ende seiner Kräfte, lag es vor ihm: die Änderungsschneiderei Ylmaz Sükül. Mit letzter Kraft öffnete er die Ladentüre, das Scheppern der Glocke über der Tür erschien ihm wie Engelsgesang, er hielt sich am Tresen fest und keuchte: „Er klemmt!“ Herr Sükül erfasste mit einem Blick die Situation und den Zipper des Reißverschlusses. Der allerdings klemmte weiter hartnäckig und bösartig, so dass der Schneidermeister zum letzten Mittel griff und den Reißverschluss eilends komplett aus dem Mantel heraustrennte.

 

Wie ein Schmetterling aus der Enge seines Kokons befreit, warf Charly die Arme in die Höhe und atmete tief durch. Ein langer Seufzer bahnte sich den Weg aus seiner Brust , aaaaaaaaah, und er fing an, wie ein Irrer zu lachen. Konnte gar nicht mehr aufhören, lachte, bis ihm die Tränen herunterliefen und er am Boden zusammensackte.

Herr Sükül wusste auch hier Rat und holte einen schönen starken, heißen Tee für Charly.

 

Nun allerdings wurde Charly auch bewusst, dass er den Himmelblauen vorhin ja nur anprobiert haben wollte und er nun, zwar temperaturgemäß, jedoch nicht vorzeigbar, in der Unterwäsche da stand.

Was für ein Glück, dass es Herrn Sükül gab!

Er lieh Charly ein Hemd und eine Hose, beides zwar etwas weit, aber angenehm zu tragen, und bot an, den Reißverschluss zu erneuern.

Daran allerdings war Charly aus mehreren Gründen nichts gelegen und er bat um Entsorgung des Mantels, wie auch immer Herr Sükül das handhaben wolle …

 

Die am nächsten Tag im Tagblatt erschienene Notiz „Apres-Ski-Verrückter verlief sich bei 35 Grad im Schatten“ entdeckte Charly zum Glück nicht …