Von Clemens Ottawa

Olmeda de la Cuesta. Ein Gecko lief, verfolgt von den Sonnenstrahlen, die unbarmherzig auf den Asphalt schienen, die äußersten Winkel der Steinstufen, die zur alten Basilika führten, nach unten.

Zwei alte Frauen, bucklig, klein, gedrungen, beide schwarz gekleidet, mit Schleier stiegen ganz bedächtig und immer wieder Pausen einlegend diese hinauf. Naturgemäß merkten die schon stark sehbeeinträchtigten Frauen nichts von dem kleinen Reptil, das da gerade runterzischte. Wieder blieben die Frauen stehen.

„Hace mucho calor!“, sagte die eine der beiden, dann nickte die andere und beide setzten sich wieder in Bewegung. Mehr als die Hälfte der Steinstufen, die zur alten Basilika führten, hatten sie schon hinter sich. Der Himmel bot kein Wölkchen. Ab und an zischten Mauersegler über den Frauen, manchmal im Sinkflug, manchmal an Höhe gewinnend, vereinzelt kurze, scharfe Schreie ausstoßend.

In der Kirche schlurfte der alte Pfarrer, oben im Türmchen, zur mittelgroßen Bronze-Glocke. Die Athrose in seinen Gelenken machte alle zu einer schmerzhaften Tortur. Ein stechender Schmerz im Knie ließ ihm ein „Dios mio!“ auskommen. Er setzte dann immer sein „Früher-war-alles-besser“-Gesicht auf. Er nahm das Seilrad in die rechte Hand, zog kräftig, das Joch trieb an. Seine Nägel waren schmutzig von der Gartenarbeit. Er hatte gestern in seinem kleinen Gärtchen, eigentlich nicht größer als eine Parzelle, umgegraben und gepflanzt. Der Schlagring bewegte sich, bewegte den Klöppel, anfangs nur verhalten, dann stärker, dann stark, schlug er im Körper der Glocke an. Einmal, zweimal.

Auf den Stufen erhöhten die beiden alten Frauen, die beide schwarz bekleidet mit Schleier waren und unter diesem gehörig schwitzen ihr Tempo. Auf die Pausen verzichteten sie nun. Zum fünften Glockenschlag waren sie bei der kleinen, stark in die Jahre gekommenen Basilika angekommen. Zu diesem Zeitpunkt war der Gecko schon lange ganz wo anders. Womöglich auf Insektenjagd, womöglich aber auch in einem kühlen Versteck, die schlimmste Hitze abwartend. Rechts, neben dem Basilika-Eingang direkt an der Steinmauer befand sich eine, mit Klebeband befestigte Parte.

Lloramos a Don José Sánchez (83). Nuestro organista. Ein Foto, ein schlechter Farbausdruck, zeigte den Verstorbenen. Er hatte einen ernsten Gesichtsausdruck und sah, mit dicken Brillengläsern direkt in die Kamera. Vermutlich hatte ihm der Fotograf oder die Fotografin gesagt, dass er „seriös“ aussehen sollte, andererseits wird er damals kaum geahnt haben, dass sich dieses Foto einmal auf seiner Parte befinden würde. Nein, so was kann man ja auch nicht ahnen.

Die beiden Alten öffneten das schwere Holztor betraten keuchend die Basilika, nach dem siebten Schlag. Weitere fünf folgten, ehe der Pfarrer ausließ, seinen Arm ausbeutelte, zögerlich kreisende Luftbewegungen damit machte, kurz durchschnaufte und den Weg nach unten antrat. Die Stahlwendeltreppe, die zum Türmchen hinauf- und wieder hinunter führte rostete beträchtlich an der Unterseite. Eine Stufe durfte schon gar nicht mehr betreten werden. Er kannte jede eine Stufe in und auswendig, wusste, wann sie gute, wann sie schlechte Tage hatten, redete manchmal sogar mit ihnen, bat sie sein Gewicht jedenfalls heute noch einmal auszuhalten. Der Pfarrer war ein dünnes Männchen von vielleicht sechzig Kilogramm. Unten angekommen bekreuzigte er sich, wandte sich nach links und betrat den Hauptaltar, vor der Tribüne, von wo aus man direkt in den abgeschrankten Chorraum gelangen konnte, von dem aus ein kleiner Treppenabgang zu einer winzigen unterirdischen Krypta führte, in dem sich das Grab der 1903 verstorbenen, aus dem Ort stammenden Hijas-de-Jesus-Ordensschwester María dos Ángel befand. Die war eine Frau des Volkes gewesen, die vielen armen Menschen geholfen hatte und hatte sich voll und ganz ihrem Orden verschrieben gehabt.

Der Pfarrer räusperte sich und die einer, der beiden schwarz gekleideten alten Frauen steckte der anderen rasch, als hätte sie diesen verzögernden Augenblick, bevor die Messe begann nur abgewartet, ein kleines Elfenbeinkreuzchen, mit einem fein herausgeschnitzten Jesus Christus in die Hand. Das Gesicht Christi ist leidend, die Stirnfalten sind hauchdünn, aber sie wirken.

„Asi que, cuánto te debo?“, flüsterte die. Aber es kam nur eine beschwichtigende Handbewegung und ein knappes „Nada!“

Der Pfarrer vorne begrüßte die versammelte Gemeinde namentlich, Donna María und Donna Verónica, diese standen auf und Donna María presste das kleine Kreuzchen in ihrer linken Hand ganz fest gegen ihren Mund und küsste es.

„Una oración por los muertos!“, sagte der Pfarrer mit halbheiserer, leicht zittriger Stimme und mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen begannen sie zu beten.

In diesem Moment öffnete sich das schwere Holzkirchentor und es traten die zwei US-amerikanischen Rucksacktouristen Simon und Patsy, beide Mitte zwanzig, beide aus Michigan, beide aschblond, seit zehn Monaten liiert und seit eineinhalb Monaten in Europa unterwegs, ein. Er trug ein giftgrünes T-Shirt, mit dem Aufdruck Who’s yr Daddy? und Levis-Jeans, sie eine weiße Short und ein gerilltes, pinkfarbenes Top. Sofort nachdem die Beiden eingetreten waren, hatte Simon sein Iphone gezückt und Patsy hatte darauf ein: „Dammit! It’s a church. You can’t do that here!“ gezischt, woraufhin es der junge Amerikaner wieder in der Hosentasche verschwinden ließ.

 

Vorne hatte die kleine Glaubensgemeinschaft für einen Augenblick, unbemerkt von den beiden Amerikanern deren  Treiben zugesehen, waren sie doch mitten in das Stillegebet geplatzt, was ihnen ebenfalls entgangen war. Der alte Pfarrer hatte wieder, langsam, halbheiser zu sprechen begonnen. Er sprach, neben dem Ableben des langjährigen Organisten der Basilika etwa auch über den Tod seiner Schwester, die in Bilbao gelebt hatte. Sie war letzte Woche verstorben, nach langen Jahren es Leidens.

 

„Se ha redimido!“ „Amen!“ sagten die beiden alten, buckligen, schwarz gekleideten Frauen. Fünfzehn Jahre hatte er sie nicht mehr gesehen gehabt. Telefoniert hatten sie aber täglich. Das werde er vermissen.

Die beiden Touristen nahmen in der letzten Reihe Platz. Das Holz knarrte. Simon trug eine Umhängetasche, Patsy einen kleinen Rucksack. Ihre Trekkingrucksäcke hatten sie in der Pension, in der sie wohnten. Sie blieben auf der Sitzbank, dehnten, streckten und gähnten fast synchron. Die Schultern schmerzten schon beinahe chronisch, nach den ganzen Wochen des Herumreisens und Abschleppens und der Schweiß hatte, jedenfalls fühlte es sich so an, den gesamten Körper benetzt. Sie freuten sich über die angenehme Kühle der Basilika, denn draußen setzte gerade die große Mittagshitze ein. Simon faltete die Hände für einen kurzen Augenblick, während Patsy im Reiseführer nachschlug. Wenig stand da über das kleine Städtchen. Aber die Basilika war abgebildet, auch wenn das Hochglanzfoto sehr geschönt war.

Simon meinte genug in sich gegangen zu sein und entnahm seiner Umhängetasche eine Evian-Flasche. Nachdem er getrunken hatte hielt Patsy ohne aufzuschauen die Hand hin. Er übergab die Flasche und sie flüsterte ein knappes: „So, we are here!“ und tippte auf dem ausgefalteten Plan, der dem Reiseführer beigelegen war auf einen Punkt.  Simon konnte nicht erkennen. Seine Kontaktlinsen schmerzten.

Der Pfarrer sagte erneut ein lautes „Amen!“ Die beiden alten Frauen waren wieder aufgestanden und hatten sich bekreuzigt.

 

„Think we should go now!“, sagte Simon. Die Beiden erhoben sich, nahmen ihre Taschen, Patsy bekreuzigte sich vor Verlassen der Basilika, was Simon nicht mitbekam und versuchten so geräuschlos wie möglich die schwere Türe zu öffnen und zu schließen, was nicht gelang.

Abermals war der Pfarrer in seiner Konzentration gestört. Er atmete tief ein und aus, vernahm das Rasseln seiner Lunge und sagte leise: „Turistas!“, schüttelte den Kopf dabei, wie es alte Menschen tun, wenn sie meinen, dass alles früher, wirklich alles früher besser war.

 

© Clemens Ottawa