Von Sabine Rickert
Die Zauberin ist auf einer Wildkräuterwanderung inklusive Workshop. Sie stellt gerne ihre Bilder in den Status: die aktuellen Errungenschaften, neue Freundschaften und ihre Essgewohnheiten. Manchmal läuft dort der ganze Wanderweg im Filmformat ab. Die Filmchen, die sie aufnimmt, verursachen beim Zuschauer eine Art Seekrankheit. Frau Gothel liebt die Technik aus der Neuzeit, kommt aber nur bedingt damit klar.
Zu Hause ruft sie andauernd:
„Punzi, das Internet ist weg! Wie bekomme ich nochmal Netflix rein?
Ich habe kein Netz! Wo macht man das Kopierding an? Verdammt, wieso braucht der Laptop ein Update? Ich bin im Onlinebanking!
Rapunzel, stopp das sofort!“
„Ich kann nicht hexen!“, erwidert sie jedes Mal.
Frau Gothel daraufhin: „Du bist Magierin!“
„Du ebenso! Nur digitale Magie hat bisher keiner entwickelt. Das wäre ein Forschungsgebiet für die kluge Else, dann lebt sie nicht immer am Intelligenzminimum. Sie würde die Märchenwelt revolutionieren. Also chill mal! Bis die ihre Laufbahnbefähigung erweitert hat, wird es dauern. Jetzt warte bitte, bis der Computer wieder hochgefahren ist.“
„Rede nicht so über deine Zeitgenossen, du imitierst mittlerweile die Beamten mit ihrem Beamtendeutsch. Du hast dir da etwas angewöhnt“, schimpft sie dann. „Die kluge Else hat ihre Momente.“
Genau so erging es ihr mit der Mülltrennung.
Mit der Sortierung hatten alle bei ihr im Hause eine Zeit lang große Schwierigkeiten, doch mittlerweile übernimmt sie es, da Frau Gothel bei dem Thema förmlich grün anläuft und dann eine halbe Stunde das Wort „Restmüllbeseitigungsbehälterentleerung“ schreit.
Wo sind die alten Zeiten geblieben – mit Kompost und Schubkarre?
Entschuldigung – mit Grüngutsammelplatz und einachsigem Dreiseitenkipper.
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Na ja, Rapunzel hat jetzt sturmfrei und wird nostalgisch.
Wie das Märchen der Gebrüder Grimm erzählt, wurde sie wegen der Liebschaft mit einem Prinzen von der Zauberin verbannt. Sie erlebte harte Zeiten in einer Wüstenei, bis der Geliebte sie wiederfand.
Sie lebten noch lange glücklich und zufrieden … Dumme Phrase!
Der Prinz war rasend eifersüchtig und ein Kontrollfreak. Sie wohnte in seinem Schloss genauso isoliert und einsam wie in ihrem Turm. Je mehr er dem Alkohol verfiel, umso öfter schlug er sie. Bei der nächsten Gelegenheit ergriff sie mit den Zwillingen die Flucht. Auf ihrer mühevollen Reise durchs Land fand sie Frau Gothel in ihrem Rapunzelgarten wieder.
Damals gab es keine Frauenhäuser. Sie bettelte die Alte an, sie und die Kinder aufzunehmen. Sie bekam erst einmal ihr ehemaliges Zimmer zurück, später erweiterten sie den Turm durch einen Anbau.
Die vertraute Umgebung gab ihr Halt. Sie hatte mit Frau Gothel einen besseren Neuanfang. Der Grund waren die Zwillinge. Die Zauberin war völlig vernarrt in sie.
Sie trat bei der Alten eine Lehre an. Ihr Ziel war es, selbst eine große Magierin zu werden. Märchenwesen leben so lange, wie die Menschen Märchen lesen. Das funktionierte jetzt schon seit über zweihundert Jahren. Deshalb waren Fortbildung und Anpassung an die Gegebenheiten wichtig. Diese änderten sich allerdings unaufhaltsam.
In den folgenden Jahrhunderten nach der Herausgabe der Kinder- und Hausmärchen waren der technische Fortschritt und die gesellschaftlichen Veränderungen enorm. Die Märchenfiguren organisierten Workshops, um weiterhin unauffällig am Leben teilzunehmen.
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Die meisten von ihnen üben mittlerweile einen Beruf aus, um nicht im Jobcenter zu landen. Die Könige und Prinzen, die sogenannten Oligarchen der Märchenwelt, haben eine Menge Gold zu verlieren. Sie fristen als Privatiers ihr Dasein, um nicht ins Bürgergeld abzurutschen. Hans im Glück war gestern – heute ist er selbstständig an der Tauschbörse tätig. Er hat eine eigene Internetseite und ist der Informatiker der Märchen-Community. Rapunzel ruft ihn oft an, wenn sie nicht mehr weiterkommt. Schneeweißchen und Rosenrot haben einen stylischen Blumenladen. Rotkäppchen pflegt ihr Image – sie ist Influencerin mit einem erfolgreichen Blog.
Das Rumpelstilzchen nennt sich selber „der Kassierer“. Er treibt Gelder für die italienische Mafia ein – erzählt man sich unter vorgehaltener Hand. Keiner weiß etwas Genaues.
Rapunzel und Frau Gothel unterhalten einen Biohofladen mit Hühnern und einigen Schweinen. Das Gemüse kommt aus dem früheren Rapunzelgarten, der um etliche Sorten erweitert wurde. Rapunzel erledigt die Buchhaltung und hat sich schon bei der Gewerbeanmeldung intensiv in Anträge und Formulare eingearbeitet. Ihren Traum, eine große Zauberin zu werden, hat sie längst aufgegeben. Agrarmarketing ist ihr neues Spezialgebiet. Demnächst expandieren sie mit einer Obstplantage für Selbstpflücker, dazu angrenzend ein Restaurant, das die Zwillinge eröffnen werden – ein kleines Familienunternehmen.
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Der nächste Workshop steht an und befasst sich mit den Auflagen im Karneval. Alle Märchenwesen lieben den Fasching. Da laufen sie im Original herum und haben Narrenfreiheit.
In diesem Monat ist es die Aufgabe von Rapunzel, zu prüfen, welche neuen Auflagen zu bedenken sind und wie weit die Narrenfreiheit reicht. Sie ist die Leiterin des Workshops >Fastnacht und seine Einschränkungen<.
Die Jäger büßen ihre Waffenbesitzkarte ein, wenn sie mit dem Gewehr im Straßenkarneval auftauchen. Ebenso ist es für die Könige und Prinzen unangebracht, bewaffnet durch die Waffenverbotszonen zu laufen. Sie bereitet eine PowerPoint-Präsentation vor, um zu demonstrieren, was alles unter das Waffenverbot fällt.
Die Bremer Stadtmusikanten hatten im letzten Jahr eine deftige Strafe bezahlt, da sie gegen das Vermummungsverbot verstoßen hatten. Sie fuhren getrennt – jeder mit dem eigenen Auto – zu den Veranstaltungen. Sie wird ihnen raten, gemeinsam ein Taxi zu nehmen und somit den sogenannten Gelegenheitsverkehr zu nutzen.
Apropos Gelegenheitsverkehr, überlegt Rapunzel. Sie hat einen Prinzen eingeladen, sie brauchte die Perücke mit dem Zopf wieder. Das Motto war ja – sie selbst sein.
Aber weiter: Auf die Liste für den Workshop kommt zusätzlich das Sterntaler-Kind. Es hat sich etwas überzuziehen; so lassen wir es nicht auf die Straße – das ruft ja alle möglichen Unholde auf den Plan.
Die echten Gänsedaunen von Frau Holle verursachen mitunter Ärger bei den Tierschützern.
Die Liste wird länger, und sie immer nervöser.
„Hoffentlich vergesse ich niemanden. Sind jetzt die Pferde schon verboten auf dem Zug? Nee, ich glaube, die sind Kulturgut. Fallada wird sich freuen – der ist immer völlig jeck.“
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Einen Tag vor Altweiberfastnacht.
Rapunzel begrüßt die Märchenwesen zu ihrem ersten, selbst organisierten Workshop und verbirgt dabei erfolgreich ihre Nervosität.
Professionell und detailliert trägt sie ihren Vortrag vor und wiederholt das Ganze in „einfacher Sprache“ für die kluge Else.
Im Anschluss gibt sie Ratschläge für die richtige Kostümwahl, falls jemand von den Anwesenden nicht im Original zum Fasching geht.
„Um Diskussionen zu vermeiden, wäre es nett, auf die kulturelle Aneignung zu verzichten. – zum Beispiel auf Indianer-, Mexikaner- oder Chinesenkostüme – und keine Dreadlocks“, führt sie aus.
Das löst plötzlich eine Welle von Fragen aus.
„Was ist, wenn jemand als Rumpelstilzchen rumläuft? Darf ich mich dann beschweren und ihm eins über die Rübe hauen?“, fragte Rumpelstilzchen.
„Natürlich nicht! Keine Gewalt, null Waffen und nicht streiten. Wie die Menschen sich verhalten, wissen wir nicht. Wir sind Vorbilder! Lege artis, liebe Community, dafür treffen wir uns hier.“
„Ich würde gern Spagetti-Eis beim Chinesen essen, ist das o.k.?“, fragt Schneewittchen einfältig.
„Ich verkleide mich als Zebra. Ist das rechtens?“, fragt Fallada.
„Brauchen wir eine Erlaubnis, um Lederhosen anzuziehen?“, rufen die Zwerge.
Fragen über Fragen, Rapunzel bekommt Kopfschmerzen und zieht sich kurz zurück. Damit hat sie nicht gerechnet – erst einmal eine Pause. „Das wird ein langer Abend, bis wir alle Punkte der kulturellen Aneignung geklärt haben. Ich bestelle mir erst einmal Spagetti Bolognese vom Türken.“
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