Von Clara Sinn
Zeit, befand sie, blöde, alte Zöpfe abzuschneiden. Egal, wie lange es dauerte. Mit der blöden, stumpfen Schere.
Mit sowas wie einem gewagten Freestyle-Bob auf ihrem neuen Kopf trat sie so frisch wie frohgemut hinaus auf die Hauptstraße an die belebte Kreuzung.
Früher hatte sie ja keine Haare gehabt. Nicht so, wie andere Kinder. Keine. Bei der Geburt etwa. Ihre hatte man von Anfang an auf null geschoren. Damit sie besser wüchsen.
Auf der Straße sagten die Leute „was für schöne Äuglein der kleine Junge hat“ und sie bog ihre smaragdbesetzten Ohrläppchen vor: „Ich bin doch ein Mädchen!“ Wenn auch kahl.
Auf alten Kinderfotos eine kleine Fee in Tüll- oder Spitzenkleidchen. Mit blankem Schädel.
Was noch harmlos war. Man hörte von Behandlungen mit Petroleum. Für kräftigeres Haar.
Ihrer Mutter waren ihre sanften Wellen zu dünn.
Wollte die denn ein Borstenschwein?
Sie war eins.
Die Mutter.
Gefühlstaub zerrte sie ihre Tochter immer wieder zum Schlachterfriseur. Immer angeblich das letzte Mal.
Klar, dass sie ihre Haare züchtete, wie sie nur konnte. Kämmte, bürstete, pflegte, flocht.
Wenn sie darüber auch nicht dazu kam, sie selbst zu sein. Frei. Statt Mutterkind. Hier brav Anti-Mutterkind.
Bis sie mit der von selbst vergehenden Zeit ihre Haarverwundung überwachsen hatte.
Dann Ehe mit einem richtigen Adam. Handwerker und Bodybuilder. Klar, sie war ja auch eine überblonde Volleva.
Binnen kurzer Frist mit gleich zwei Evchen. Die nach der Mutter kamen. Mit der Wellentracht.
So weit so gut. So durchschnittsglücklich. Mit Haus, Hund, Garten, Gartenzaun und Carport.
Dann waren die Mädchen aus dem Haus und ihr Ex-Mann dieser jüngeren Eva verfallen.
Wobei sie sich im Guten getrennt hatten. Er hatte angeboten, ihr für das alte Elternhaus, in das sie wieder eingezogen war, ebenfalls ein Carport zu bauen. Sehr gerne auch ein Doppelcarport …
Sie hatte
dankend abgelehnt.
Dieses Unterschlüpfen im Haus ihrer Kindheit war nur für den Übergang gemeint. Dann nichts wie vermieten und raus. Es los sein. Alles. Eigene Familie, Herkunftsfamilie.
Schnitt.
Und warum nicht gleich Nägel mit Köpfen machen? War es nicht immer schon ihr heimlicher Traum gewesen, im Süden zu leben?
Sonnigere Tage.
Wo ein Carport das letzte war,
was man benötigen konnte.
Und hatte dieser Antonio aus Turin nicht so überaus ansprechend zurückgeschrieben?
Sonnige Tage.
Mit Kurzhaarfrisur unter flatterbandbeschleiftem Strohhut.