Von Patricia Scheer

September 1666. Es sollte das Jahr, der Monat sein, in dem sich alles für meine Heimatstadt änderte. Alles, für die dort lebenden Menschen änderte. Ein sarkastisches Lachen entkommt beinahe meinem Mund. Ist es doch seltsam das Wort „Heimat“ für London über meine Lippen kommen zu lassen, wenn jegliches damit assoziierte Gefühl so weit entfernt von meiner Seele verharrte. Schnell schiebe ich diesen Gedanken auf die Seite und hole die Straßen und engen Gassen zurück in meine Erinnerung. Ein erfrischender Wind blies mir angenehm durchs Haar und gab der schwülen, heißen Spätsommerluft eine kühle Brise. Nicht nur einmal schweiften meine Gedanken zu einem anderen Ort, doch die alten Backsteine, die vertraut unter meinen Füßen lagen, holten mich stets wieder zurück in die harte Realität. Weit entfernt, wie durch Watte, nahm ich das Klackern der Pferdehufen und das ewige Geschreie der unzufriedenen Menschen wahr. Jeder Tag beinhaltete den selben Ablauf, dieselben Beschwerden und dieselben Uneinsichtigkeiten. Dabei sollten sie doch dankbar sein, jene, die sich als glückliche Überlebenden der Pest behaupten konnten. Ja, als ich Tag für Tag durch die Gassen wanderte und mein Blick einem nach den anderen jammernden Mensch übers Gesicht schweifte, entwickelte sich doch Etwas vergleichbar mit Rage. Nein, sie wollten es einfach nicht verstehen, wollten partout nicht daraus lernen. Dennoch beobachtete ich sie weiterhin, während ein Teil von mir auf Einsicht ihrerseits hoffte, bis ich eines Tages an einer Bäckerei Halt machte. Völlig unerwartet für meinen erschöpften Kopf, konnte ich ein hallendes Lachen aus der warmen Stube hören. Es kam unverkennbar von einem kleinen Buben. Überraschenderweise erfüllte es mein langsam erkaltendes Herz mit einem Tropfen Wärme, ein helles Licht, das mein Inneres umgab wie Honig. Zugleich erkämpfte sich der Geruch frischen Gebäckes seinen Weg durch den furchtbaren Gestank der Straßen bis er mich letztendlich erreichte. Verloren in diesem unverhofften Moment, schloss ich meine Augen und blendete meine Umgebung völlig aus. Mein Hör- und Geruchssinn nahmen all das wahr, das mir doch noch einen Funken Hoffnung für London schenkte. Dieser schmackhafte Duft und die Freude dieses kleinen Jungen, zeigten mir plötzlich eine völlig neue Seite dieser Stadt und seiner Bewohner. Eine Seite, die ich endgültig verloren glaubte. Energisch öffnete ich meine Augen und bewegte mich hoffungsvollen Schrittes Richtung alter, offenstehender Holztür. Jede Zelle meines Körpers war nun bereit für einen Lichtblick. Kaum befand ich mich in der Stube, umgab mich schon der Geruch von Brot und die Wärme eines im Kamin lodernden Feuers. Trotz der Wärme von draußen, schien es in der Bäckerei nicht unangenehm zu sein. Zu meiner Verwunderung befand sich nur ein Mann mittleren Alters vor mir und strahlte mich verschmitzt an. Als er zum Sprechen ansetzte, ertönte plötzlich wieder ein Lachen. Ich stellte mich auf Zehenspitzen um hinter den Mann und dem vor ihm stehenden Holztisch zu sehen. Zuerst konnte ich nur den Rücken erkennen, doch dann drehte der kleine Bub sich um und auch er zeigte mir sein wohl meist verschmitztes Grinsen. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden war verblüffend, löste Etwas in mir aus. Noch immer grinsend, fragte der Vater mich, wie er behilflich sein konnte, doch alles, das mich interessierte, war der Grund ihrer Freude, wenn doch all die anderen in Trostlosigkeit ertranken. Wortlos zeigte mir der kleine Junge einen Gegenstand, den er fest in seiner Hand hielt. Eine aus Stroh gebundene Puppe. Es brauchte nichts als dieses Spielzeug um so eine Freude zu erzeugen. Doch der Mann zerstörte meine Hoffnung, noch bevor ich sie richtig wahrnehmen konnte. Und mit meiner Hoffnung, zerstörte er noch viel mehr. Kurzerhand erklärte er mir den Nutzen dieser Puppe. Er mache viele davon, hatte sogar vor sie zu verkaufen. Sie stünden für jene Wesen, die grausam und undankbar sind. Für jene, die Unglück und Dunkelheit bringen, die die Menschheit gnadenlos zerstören wollen. Er erklärte mir auch, dass sie die vom Teufel gesandten seien. „Komm mein Sohn, wirf sie ins Feuer, die grauenvolle Hexe.“, waren seine Worte. Sein Grinsen noch immer unverändert, die Augen erleuchtet. Im selben Moment, in dem das Stroh die Flammen berührte, fing das ganze Bündel Feuer. „Eine nach der anderen gehört verbrennt!“, fügte der Vater hinzu, während sein Sohn begeistert nickte. Plötzlich wurde es unerträglich heiß. Die anfänglich angenehme Wärme drohte mich zu erdrücken. Schnell ergriff ich die Flucht nach draußen, ließ die beiden hinter mir zurück, ohne ihnen auch nur noch einen Blick zu würdigen. Ich lief die Gassen entlang, ohne Ziel, meine Gedanken wirbelten in meinem Kopf herum. Das war also die Realität. Die unerbittliche Realität. Jegliche Hoffnung, die sich in mir kundtat, wurde inmitten diesen einem Erlebnisses zerstört. Nichts war mehr übrig. Und so fand ich mich am Rande meiner Heimatstadt, bereit zu gehen. Bereit sie ihrem Schicksal zu überlassen.
September 1666. Es sollte das Jahr, der Monat sein, in dem sich alles für London änderte. Alles, für die dort lebendenden Menschen änderte. Es konnte nur so sein, dass sich das Feuer aus genau jener Bäckerei ausbreitete, die mit der Hetzerei begonnen hatte. Es sollte einfach so sein. Aus der Ferne sah ich zu, wie die Flammen Haus nach Haus verschlangen. Auch die Schreie der Bewohner fanden ihren Weg durch die Gassen, bis hin zu der Stadtgrenze. Einer nach dem anderen umgeben von der Hitze. Der selben Hitze, die sie ihren so gefürchteten Wesen wünschten. Kurzerhand drehte ich mich um und machte mich auf den Weg. Weg von dem lodernden London. Ein wenig Trauer breitete sich in mir aus. Die Stadt selbst war doch nicht das Problem. Die Einwohner waren doch diejenigen, die sie so ins Verderben stürzte. Langsamen Schrittes ging ich in die Ferne den Feldweg entlang, meine Finger streiften über die hohen Gräser und das Gekreische nahm ab. Schnell bemerkte ich, dass ich nicht mehr alleine war. Sie schlossen sich mir an, folgten mir. Was getan werden musste, war nun erledigt. Wir mussten nun weiterziehen, in der Hoffnung, die Einwohner der nächsten Stadt würden besser lernen, schneller lernen. Einsicht zeigen. Die Menschen hier, nein, sie wollten es einfach nicht verstehen, wollten partout nicht daraus lernen. Suchten die Schuld noch immer in jenen, die ihnen doch nur zeigen wollten, wie kostbar das Leben ist und für was es sich zu kämpfen lohnt. Wir sind nicht die Gesandten des Teufels, doch viele von ihnen waren es.