Von Peter Burkhard

Viktor hatte die Gabe, sich aus seinen Träumen zu befreien, wenn er dies wollte.
Er schaffte es, zurück in die Wirklichkeit zu flüchten, indem er die Abfolge seiner nächtlichen Trugbilder einfach abstellte. Zack, aus.
In seinen schlimmsten Albträumen war er jedes Mal umzingelt von vielen Löwen. Die Szenerien waren stets andere, meist fremd und surrealistisch, aber die Löwen waren immer da. Seltsamerweise waren die Raubkatzen nie aggressiv, im Gegenteil, sie verhielten sich merkwürdig abwartend und gaben vor, sich für ihn gar nicht zu interessieren. Aber allein ihre Anwesenheit und die davon ausgehende tödliche Gefahr wurden für den träumenden Viktor irgendwann unerträglich. Dann wachte er auf, ganz gezielt, um seine Haut zu retten.

Als er diesmal jäh erwachte, waren keine Löwen zugegen und auch keine Gefahr. Nein, da trommelte jemand gegen eine Tür oder einen Fensterladen, schlug wild drauflos und hörte damit nicht auf. Kein Rufen, keine Schreie, nur dieses laute, ungestüme, nicht enden wollende Poltern auf massivem Holz. Er setzte sich ruckartig auf, wartete einige Sekunden, sein betäubtes Gehirn begann plötzlich zu wirbeln. Wer um Himmels willen konnte dies sein? Wem außer Felicia, diesem gottvergessenen Miststück, wäre es je in den Sinn gekommen, zu nachtschlafender Zeit so an die Tür zu poltern?
Nur, Felicia war tot.
Gegen jede Vernunft, aber beunruhigt und getrieben durch Neugierde, blieb ihm nichts anderes übrig, als nachzusehen und der entgleisten Person die Tür zu öffnen. Er glitt aus dem Bett, zog sich seinen Morgenmantel über, schüttelte heftig den Kopf, um wach zu werden und schlurfte durch den schwach erleuchteten Hausgang.
Das Klopfen hörte abrupt auf. Totenstille.
Vor der Tür war niemand. Im fahlen Licht des Mondes war jedenfalls niemand zu sehen. Er trat einige Schritte vors Haus, spähte angestrengt ins Dunkel des Gartens und lauschte regungslos – nichts. Beruhigt durch die wieder eingekehrte Stille der Nacht, aber irritiert und ratlos drehte er sich um, brummte etwas vor sich hin und stieß die angelehnte Haustür wieder auf. Dabei prallte er mit dem linken Fuß an einen Gegenstand, den er mit seinem ungewollten Tritt an den Türrahmen beförderte. Ein kleines Paket, das er zuvor völlig übersehen hatte, lag zu seinen Füßen, schien aber keinen Schaden genommen zu haben. Zurück in der Küche deponierte er die federleichte Schachtel auf dem Küchentisch und holte ein Messer aus der Schublade der weißen Kommode. Das meiste des Inhalts war zerknülltes Zeitungspapier, wertloses Füllmaterial. Doch im Innersten, sorgfältig in einen Fetzen Seidenpapier gehüllt, fand er vier winzige Samen. Keine Mitteilung, kein sonstiger Hinweis, nichts.
In den verbleibenden Stunden der Nacht, es krähte schon bald der erste Hahn, schlief Viktor kaum noch und brütete vergeblich über einer Erklärung für diesen kuriosen Vorfall.

Es regnete nun häufig, der Sommer kündigte sich an.

Die Samen hatten ihren Bestimmungsort gefunden, was sie zu bedeuten hatten, blieb ein Rätsel. Viktor hegte sie so gut er konnte, eigentlich fehlte ihm das Fingerspitzengefühl für solche Kleinigkeiten. Dennoch, zwei Wochen später regte sich Leben im kleinen Blumentopf auf dem Fensterbrett der Küche. Kecke grüne Blattspitzen schoben die lockere Erde zur Seite und drängten ans Licht. Die jungen Pflänzchen gediehen prächtig, jedes in seinem Topf. Und mit der Zuwendung, die ihnen gewährt wurde, entfalteten sich fast gleichzeitig vier ihm unbekannte, wunderprächtige Blumen. Die eine blühte in sattem Kanariengelb, eine andere offenbarte sich in bescheidenem Blütenweiß, die dritte war ägyptisch blau und die vierte erstrahlte in einem geheimnisvollen Feuerrot.
Viktor war fasziniert und blieb ratlos zugleich.
Eines Morgens befreite ihn das Läuten des Telefons aus seiner wirren Gedankenwelt. Er verspürte keine Lust, sich mit jemandem auszutauschen, aber der Störenfried ließ nicht locker, also nahm er den Hörer ab und meldete sich.
„Hallo Onkel Viktor, ich bin’s Solveig, deine Nichte. Wie geht es dir?“
„Solveig, ah, schön, dass du anrufst“, log er. „Worum gehts?“
Sie unterhielten sich eine Weile, während derer hauptsächlich die junge Frau sprach und er abwesend irgendwelche Figuren auf eine Zeitung kritzelte. Unvermittelt schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf wie ein Pfeil.
„Hör zu, meine Liebe“, der Ausdruck kostete ihn einiges an Überwindung, „möchtest du heute mit mir zu Abend essen?“
Pünktlich zur verabredeten Zeit stand die Nichte vor der Tür. Viktor empfing sie freundlich und bat sie in seine Küche. Er hatte gekocht, dazu hatte er ein Händchen, nun trug er die Speisen auf und stellte sie auf den kärglich gedeckten Tisch. Die Unterhaltung verlief angeregt, die Anwesenheit der jungen Frau beflügelte den Einzelgänger erstaunlicherweise und einige Gläser Wein trugen das Ihrige zur Stimmung bei.
„Du bist doch Gärtnerin?“ Er war sich nicht ganz sicher, wollte jetzt aber endlich auf den wahren Grund der Einladung zu sprechen kommen.
„Floristin. Ist aber fast dasselbe, warum?“
„Ich habe ein paar schöne Blumen, die ich dir zeigen möchte.“

Als die junge Frau das Haus ihres Onkels verließ, stellte sie erstaunt fest, wie weit die Nacht schon fortgeschritten war. Sie ließ ihm ein kleines Stück Papier zurück, auf dem sie fein säuberlich die Namen der Blumen und deren Symbolik notiert hatte.

Solveigs Fachwissen über die Bedeutung der Blumen und deren Farben hatte Viktor am Abend zuvor tief beeindruckt. Nun, beim wiederholten Lesen ihrer Notizen, versuchte er sich wieder und wieder einen Reim auf das Geschriebene zu machen:
∽ weiße Regenblume   /   Ich muss für meine Sünden büßen, ich werde dich nie vergessen
∽ gelbe Schwertlilie   /   Blume der guten Nachricht
∽ rote Gerbera   /   Durch dich wird alles schöner und glücklicher
∽ blaue Glockenblume   /   Dankbarkeit

Auch die folgenden Tage vermochten Viktors Ratlosigkeit und die quälenden Fragen nicht zu verdrängen. Seine Gedanken drehten sich ständig um das mysteriöse Etwas, welches ihm den Karton mit der versteckten Botschaft beschert hatte und um Solveigs Deutungen, in denen er nicht den geringsten Sinn erkennen konnte.
Manchmal, wenn es ihm die Zeit erlaubte, nahm er die vier Töpfe, trug sie in den Garten, wo der Brunnen plätscherte, und begann, die Blumen in verschiedenen Folgen anzuordnen. Er bildete alle erdenklichen Kombinationen, überdachte die Bedeutung der Farben und sinnierte tagtäglich, bis die untergehende Sonne jeweils ihr Zepter der Nacht überreichte.

Seinerzeit, vor vielen Wochen, hatte ihn das ungestüme Poltern an seiner Haustür jäh aus dem Tiefschlaf gerissen. Diesmal klopfte es an einem Nachmittag, die Zeiger der Uhr flogen bereits dem Abend zu. Die Schläge waren nicht minder heftig als damals und zeugten von großer Ungeduld. Viktor stand einmal mehr grübelnd in seinem Garten. Neugierig stürmte er zur Tür, riss sie auf und erschrak. Vor ihm stand ein zierliches, unscheinbares Persönchen mit gesenktem Kopf.
„Ich bin Ayana“, murmelte es, „ich habe Hunger und Durst.“ Nachdem er sich von seinem Schrecken erholt hatte, ergriff der überrumpelte Mann die Hand des kleinen Mädchens und führte es ins Haus. Ohne viel zu fragen, wärmte er das bisschen Suppe, das noch vom Vorabend auf dem Herd stand und schob dem fremden Kind einen Teller voll hin. Die warme Flüssigkeit und ein Stücklein Brot weckten die Lebensgeister der scheuen Besucherin, sie schien Vertrauen zu fassen und begann kaum hörbar zu sprechen. Nicht ihre leisen Worte, aber ihr Auftauchen sollten Viktors Welt von einem Moment zum anderen für immer verändern.
„Meine Mama ist …“ Ein heftiger Husten schüttelte den zerbrechlichen Körper und das Mädchen fing an zu weinen. Das kleine Bündel Elend war höchstens fünfjährig, ihr lockiges braunes Haar erinnerte ihn an die Mähne seiner einst so geliebten Felicia, jenes unseligen Weibsbildes, welches Unglück über ihn gebracht hatte. Eigentlich war die verblichene Felicia keinen Gedanken mehr wert, aber die Erscheinung dieses Mädchens irritierte ihn so sehr, dass er nicht anders konnte, als an sie zu denken.
Nach einer Weile beruhigte sich die Kleine, sie fuhr fort und erzählte ihrem Gegenüber, dass ihre Mutter ihr vorangegangen sei und sie an diesen Ort gebracht hätte.
„Deine Mutter, wie heißt denn deine Mutter?“
„Meine Mama, meine Mama?“ Sie blickte fragend zu ihm auf, zögerte kurz und verstummte.
Der Gedankenaustausch brach ab, das ermüdete Geschöpf legte seinen Kopf auf die verschränkten Arme und schlief ein. Erschüttert verharrte Viktor am Tisch. Unfähig, seine Gedanken zu ordnen, betrachtete fürsorglich das kleine Mägdelein, von dessen Existenz er bisher keine Ahnung hatte.
Als er sich am nächsten Tag erhob, war der Morgen schon weit fortgeschritten.
Sein Kind, es lag nun auf der Couch im Wohnzimmer, schlief noch immer, umgeben von einer Aura der Stille und des Friedens. Viktor trat hinaus in den Garten, wo der Brunnen wie gewohnt plätscherte und die Spatzen sich unentwegt um einige Brosamen stritten. Sein Blick glitt zu den farbenprächtigen Blumen und plötzlich begriff er deren verheißungsvolle Botschaft mit einer Klarheit, als hätte darüber nie Ungewissheit bestehen können.

 

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