Von Irmi Feldman
Quietschend baumelte das eiserne Schild über der Tür. Antiquitatis Humanus stand da in geschnörkelten Buchstaben. Ohne es zu bemerken, war Balder mehrere Male an dem Gebäude vorbeigelaufen, so grau und unscheinbar stand es eingequetscht zwischen den anderen. Sein Kontakt hatte ihn davor gewarnt. Schwer zu finden sei es. Man müsse Geduld haben. Balder hatte beinahe schon aufgegeben, bis er es zuletzt doch noch fand.
Neugierig trat er ein. Das Eintreten sei wichtig. Auch davor hatte ihn sein Kontakt gewarnt. Er solle nur eintreten, wenn er wirklich sicher sei, dass er seine Identität ändern wolle. Schon das Eintreten könne endgültige Folgen haben.
Aber, ja doch, hatte Balder ein wenig verärgert ausgerufen. Er sei in schlechte Gesellschaft geraten, habe Geld angenommen, habe es verspielt, und könne es natürlich nicht zurückzahlen. Die Mafia sei ihm auf den Fersen. Er müsse untertauchen.
Es war, wie erwartet, ein Antiquitätengeschäft: Verstaubte Tischchen, Stühle, Vogelkäfige, Puppen, Gewänder und allerlei Krimskrams, irgendwo aufgehängt oder abgestellt; ohne Ordnung, ohne Plan, und scheinbar ohne Absicht es je wiederfinden zu wollen. In einer dunklen Ecke hinter einem Tresen, dessen Ablage viel zu hoch für ihn war, reckte ein verrunzeltes Männlein den Kopf empor.
Ob er sich verlaufen habe? Fragte das Männlein.
Er sei sich nicht sicher, sagte Balder, aber er glaube, dass dies der richtige Ort sei. Sein Kontakt habe ihm die Adresse gegeben.
Geheimnistuerisch lehnte Balder sich nach vorne, das Männlein tat es ihm gleich. Kaum hörbar hauchte Balder den Namen seines Kontaktes.
Er verstehe, sagte das Männlein. Ob er auch ganz sicher sei, dass er jemand anderes werden wolle. Wenn die Identität erstmal verändert sei, gebe es kein Zurück. Ob er das wisse?
Balder nickte. Das sei ihm klar.
„An welche Identität haben Sie denn gedacht?“
Balder zählte auf, dass er einen neuen Pass brauche, eine Wohnung in einer anderen Stadt, vielleicht sogar in einem anderen Land. Eine neue Identität eben.
„Ah“, meinte das Männlein. „Sie wollen ein Mensch bleiben. Das ist teuer.“
„Wie bitte?“, fragte Balder. „Natürlich will ich ein Mensch bleiben. Gibt es denn eine andere Möglichkeit?“
Er könne alles werden. Ein Tier, eine Sache. Die Möglichkeiten seien endlos. Sachen seien am billigsten. Danach Tiere. Die Kleinen günstiger als die Großen. Verständlicherweise. Eine Laus, beispielsweise, kriege er fast umsonst.
Balder war zuerst verwirrt. Dann geschockt. Darüber müsse er nachdenken, stotterte er. Das sei alles so überraschend. Er könne jetzt keine Entscheidung diesbezüglich treffen.
„Ich verstehe“, sagte das Männlein. „Sowas muss gut überlegt sein.“
Balder nickte. Er machte einen Schritt Richtung Ausgang. Er wollte nur weg. Blindlings stolperte er über das herumstehende Gerümpel, das ihm den Weg zu versperren schien. Endlich erreichte er die Ausgangstür und zog sie auf. Da bemerkte er den Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er rauchte. Wer war das? Was machte der hier? War das ein Mafioso? Wie haben die ihn so schnell gefunden? Er war sich so sicher gewesen, dass ihm niemand gefolgt war.
Der Mann blickte auf. Sekundenlang starrten sie sich gegenseitig in die Augen, bis Balder den Blick senkte und erschrocken in den Laden zurückwich. Sein Herz begann wie wild zu trommeln. Er fühlte sich schwach. Er schwitzte. Er bekam kaum Atem, obwohl er schon heftig schnaufte.
„Haben Sie sich entschieden?“, fragte das Männlein hinter ihm.
Balder erschrak. Nein! Noch nicht.
Er fühle sich nicht wohl. Ob er sich setzen könne? Das Männlein wies auf eine Bank in der Nähe der Tür. Von dort konnte Balder auch die gegenüberliegende Straßenseite im Auge behalten.
Plötzlich fühlte er sich seltsam leer und ausgelaugt. Es war ein Fehler gewesen hierherzukommen. Das wusste er jetzt. Sein Kontakt hatte ihn sogar gewarnt. Nur hatte Balder die Bedenken in den Wind geschlagen. Bestimmt hätte sich eine andere Möglichkeit ergeben. Er versuchte sich zu erinnern, wie er seinen Kontakt gefunden hatte? Oder hatte der ihn gefunden?
Ein Mensch bleiben koste eine Million hatte das Männlein gesagt. Die hatte Balder natürlich nicht. Was für eine Ironie! Wenn er so viel Geld hätte, könnte er seine Schulden bezahlen und bräuchte keine neue Identität.
Er fragte sich, wie es wohl sei, sich in ein Tier verwandeln zu lassen. In einen Hund vielleicht? Oder eine Katze? Eine nette Familie könnte ihn adoptieren. Ein Leben als Hund wäre vielleicht gar nicht so schlecht. Die menschlichen Verantwortungen wären ein für alle Mal vorbei: Keine Arbeit, kein Stress, keine Miete. Ums Essen müsste er sich auch nicht kümmern. Und natürlich könnte ihm die Mafia nichts mehr anhaben. Er schauderte, als er an den letzten Besuch seiner sogenannten Freunde dachte. Der Besuch hatte ihn einen Finger gekostet. Beim nächsten Besuch werden sie mehr von ihm abschneiden, haben sie ihm versprochen.
Die Hundeidee erschien ihm jetzt fast verlockend.
Doch als er das Männlein danach fragte, wehrte dieses ab. Nach der Verwandlung wäre er ein herrenloser Hund, den er auf die Straße jagen müsse. Denn was solle er mit einem Hund in seinem Laden? Balder wisse wohl, wie man in diesen unruhigen Zeiten mit streunenden Hunden umgehe. Jeder habe das Recht, sie gnadenlos abzuknallen. Man bringe sie nicht mehr ins Tierheim wie früher, wo sie aufgepäppelt werden, bis eine gute Seele sie adoptiere. Katzen erlitten das gleiche Schicksal. Ja, die Zeiten haben sich geändert.
Balder erkundigte sich nach Giraffen oder Elefanten? In Afrika könnte er sich ein angenehmes Leben vorstellen.
Das Männlein schüttelte abermals den Kopf. Sobald eine Giraffe hier in dieser Gegend auftauche, würde man sie in den Zoo bringen oder noch Schlimmeres, sagte das Männlein. Ob er verstehe? Wie gesagt, es seien grausame Zeiten.
Ob er schon an einen Gegenstand gedacht habe? Suggerierte das Männlein. Gegenstände haben ein ruhiges Dasein.
Natürlich nicht. So ein Unsinn, rief Balder aus. Ein Gegenstand wollte er auf gar keinen Fall werden.
Warum nicht? Es könne etwas Wertvolles sein. Ein Diamant, zum Beispiel? Oder etwas, das ihm immer schon gefallen habe.
Eine Violine fiel ihm ein. Als Kind wollte Balder immer die Violine lernen, aber seine Eltern waren dagegen gewesen. Musik, sagten sie, das bringe nichts. Davon könne man nicht leben.
Balder schaute wieder zur Tür. Er wollte nur weg. Doch der rauchende Mann stand immer noch auf der anderen Straßenseite. Wieso verschwand der denn nicht?
Balders Puls raste. Er versuchte sich zu beruhigen. Vielleicht war das nur irgendein Mann, und kein Mafioso. Vielleicht ist er ganz harmlos? Vielleicht wartet der nur auf seine Freundin? Vielleicht sollte Balder einfach den Laden verlassen und sehen, was passierte? Doch die Angst vor den gezückten Messern hielt ihn zurück.
Für was er sich nun entschieden habe, fragte das Männlein hinter ihm. Er wolle ja nicht drängen, aber es sei spät. Er wolle nach Hause gehen. Er müsse sich jetzt entscheiden.
Balder schaute ihn ratlos an.
Ob er die Hintertür benutzen könne, fragte Balder.
Die Hintertür? Wiederholte das Männlein. Die habe er schon vor Jahren zumauern lassen, wegen der ständigen Ausbrüche.
„Ausbrüche?“, fragte Balder alarmiert.
Aber was sage er da. Einbrüche, natürlich, Einbrüche, versicherte ihm das Männlein.
Balder fragte, ob er ein Mensch bleiben und die Kosten in Raten abbezahlen könne.
Nein. Auf gar keinen Fall. Das Männlein hatte jetzt genug. Barzahlung müsse es sein. Wenn er seine Identität nicht ändern wolle, so müsse er gehen. Jetzt sofort.
Balder konnte kaum atmen. Sein Hals war wie zugeschnürt. Was sollte er nur tun?
Entweder gehe er jetzt oder er müsse sich verwandeln lassen, rief das Männlein schon wieder. Ein Blick nach draußen versicherte Balder, dass der Mann immer noch auf der anderen Straßenseite stand.
Na gut, flüsterte Balder. Er war bleich wie die Wand. Eine Violine. Eine Violine wolle er werden.
Ganz sicher?
Balder nickte schwach. Die Beine versagten ihm fast den Dienst. Das Männlein deutete an, ihm ins Hinterzimmer zu folgen. Das Finanzielle war schnell erledigt. Dann gings ans Mischen. Schon war das Getränk fertig. Der Alte reichte ihm den Kelch. Er solle es langsam trinken.
Wie es denn sein werde. Als Violine? fragte Balder heiser.
Ein gemütliches Dasein, sei es. Ohne Stress und ohne Ärger. Der Geist bleibe: Seine Erinnerungen, seine Gefühle, sein Intellekt. Die Hörkraft bleibe auch. Und natürlich die Sehkraft. Aber das Beste sei wohl die verstärkte mentale Kraft. Da die meisten Sinne verlorengehen, kompensiere das Gehirn und sei zu außergewöhnlichen Taten fähig. Er werde sehen, versprach das Männlein.
Zitternd griff Balder nach dem Kelch. Langsam begann er zu trinken. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Er wachte auf, weil er das Gefühl hatte, getragen zu werden. Es erinnerte ihn an seine Kindheit. Vorsichtig öffnete er die Augen. Tatsächlich, der Alte trug ihn nach vorne zum Schaufenster. Erst jetzt bemerkte Balder die mitleidigen Blicke der umherstehenden Antiquitäten. Warum nur waren ihm die Augen nicht vorher aufgefallen?
Im Schaufenster rückte das Männlein ein paar Sachen zur Seite. Vorsichtig setzte er Balder ab. Im Spiegelbild des Schaufensters erkannte Balder, was aus ihm geworden war: eine delikate Violine. Eine Stradivari.
Entsetzt schloss er die Augen. Gleich darauf riss er sie wieder auf. Von draußen drangen Stimmen herein. Eine Frau trat aus dem gegenüberliegenden Laden, umarmte den rauchenden Mann, und ging händchenhaltend mit ihm davon. Lange schon waren die beiden aus Balders Blickfeld verschwunden, um zwei Ecken gebogen und hatten eine Straße überquert. Doch Balder hörte immer noch das Klappern ihrer Schuhe auf dem Asphalt. Eine halbe Ewigkeit dauerte es, bis die Stille selbst den leisesten Hauch ihrer Anwesenheit verschluckt hatte.
ENDE
© Irmi Feldman, 2025, v2, 9874z