Von Andreas Schröter

Die Unregelmäßigkeiten, unter denen ich nun schon so lange leide, fingen ausgerechnet an einem Sommertag an, an dem ich glücklich war. Das Date am Vorabend war gut verlaufen, und ich machte mir erstmals seit vielen Jahren wieder Hoffnungen, bald eine feste Freundin zu haben – etwas, das ich mir schon so lange wünschte. Eva und ich teilten dieselben Hobbys: Rad fahren und schwimmen. Und das ist doch die Grundvoraussetzung für eine gelungene Beziehung, oder? Gemeinsame Interessen. Außerdem – ja, ich geb’s zu, ich steh auch auf die Basics – sah sie verdammt gut aus: schwarzhaarig, schlank und ein bezauberndes Lachen.

Es kann sogar sein, dass ich leise den Song „I only wanna be with you“ vor mich hinpfiff, als ich die Straßenseite wechselte, um mir am Eisstand gegenüber ein Hörnchen Stracciatella und Nuss zu gönnen: „… I don’t know what it is that makes me love you so …“ Kennen Sie, oder? Ich sollte noch hinzufügen, weil es wichtig für das Folgende ist, dass es sich um einen ausgesprochen sonnendurchfluteten Tag handelte.

Denn …

… als ich die Straße halb überquert hatte, bemerkte ich aus den Augenwinkeln etwas höchst Ungewöhnliches. Ich glaubte zu erkennen, dass mein Schatten etwas tat, was nicht mit meinen eigenen Bewegungen übereinstimmte. Ganz kurz sah es so aus, als zeige er mir den Stinkefinger. Ich blieb sofort stehen – und ein Auto hupte mich an –, um mir die Sache genauer anzusehen. Doch da war nichts. Mein Schatten war einfach nur mein Schatten, ein Abbild meiner selbst. Bestimmt hatte irgendetwas die Sonne kurz in der Weise verdunkelt, dass es zu der erwähnten optischen Täuschung kam. Das lose herabhängende Gürtelende meiner Lederjacke vielleicht.

Ich ging weiter, kaufte mein Eis und gab mich wieder meinen Träumereien bezüglich Eva hin. War es noch zu früh, über Kinder und ein schönes Reiheneckhaus nachzudenken? Doch ich war noch nicht ganz beim Nussteil meines Eises angekommen, als mein Blick erneut auf meinen Schatten fiel, der mittlerweile recht groß war, weil die Sonne schon tief stand. Er hatte die Hände an den Kopf gelegt und winkte mit den Fingern, so wie es vielleicht ein mittelalterlicher Narr getan hätte, um jemanden zu verulken. Hätte ich in dem Schatten so etwas wie ein Gesicht ausmachen können, wäre ich nicht verwundert gewesen, wenn er mir die Zunge herausgestreckt hätte. Aber der Schatten hatte kein Gesicht.

Ich war so erschrocken, dass ich mein Eis aufs Pflaster knallen ließ und wohl auch einen erstickten Schrei ausstieß. Die Menschen um mich herum sahen mich seltsam an und rückten etwas von mir ab. Natürlich war bei nochmaligem Hinsehen wieder nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Hatte jemand hinter mir gestanden und die soeben gesehenen seltsamen Bewegungen ausgeführt?

Dennoch war ich aufs Tiefste verunsichert und rannte fast zu einem nahegelegenen überdachten Buswartehäuschen. Dort kam die Sonne nicht hin, also konnte ich auch keinen Schatten haben. Ich wartete dort mehrere Stunden, bis die Sonne endlich untergegangen war. Mehrere Busse hatten vergeblich gehalten, und ich musste den Fahrern bedeuten, nicht an einer Mitfahrt interessiert zu sein, woraufhin sie kopfschüttelnd weiterfuhren.

Zu meinem nicht unerheblichen Verdruss schien auch am nächsten Tag die Sonne. Ich meldete mich auf der Arbeit krank und verließ den ganzen Tag nicht meine kleine Wohnung. Leider war es an den nächsten Tagen nicht anders, und so musste ich am vierten Tag wohl oder übel doch die etwa 200 Meter im Freien zum nächsten Supermarkt überwinden, wollte ich nicht verhungern.

Ich nahm mir vor, einfach nicht auf meinen Schatten zu achten. Aber Sie wissen ja, wie das ist. Wenn man sich vornimmt, nicht an einen rosa Elefanten zu denken, tut man es eben gerade doch. Und so war’s auch bei mir. Mein Schatten sah aus wie das Profil eines Revolverhelden im Wilden Westen, der gerade seine Waffe aus dem Holster zieht. Bildete ich mir auch ein, ein fieses Lachen aus weiter Ferne zu hören?

Es tut mir leid, Ihnen gegenüber hier nicht cooler und abgebrühter erscheinen zu können. Aber Fakt ist leider, dass ich in wilder Panik und laut schreiend in den Supermarkt stürzte. Erst nach über einer Stunde hatte ich mich insoweit beruhigt, dass ich ein paar Lebensmittel zusammenraffen und sie bezahlen konnte. Doch traute ich mich nicht, mich auf den Rückweg zu meiner Wohnung zu begeben. Bis zum Ladenschluss drückte ich mich am Supermarkteingang herum, und erst nach dreimaliger Aufforderung durch den Filialleiter, das Geschäft zu verlassen, kam ich dem nach – nicht ohne meinen Kopf verhüllt zu haben, obwohl ich irgendwo im Hinterstübchen natürlich wusste, dass man einen Schatten nicht daran hindern kann, sich zu zeigen, wenn man sich selbst unter Stoff versteckt.

Weil ich kaum etwas sehen konnte, wäre ich unterwegs beinahe zweimal überfahren worden. Außerdem rempelte ich mehrere Fußgänger an, die sich lauthals beschwerten.

Am nächsten Tag, einem Samstag, stand das nächste Date mit Eva an. Wir hatten uns für drei Uhr nachmittags in einem Biergarten verabredet. Das war natürlich etwas, was unter den gegebenen Bedingungen völlig unmöglich war. Ich beschloss, sie anzurufen und ihr ehrlich die Lage der Dinge zu schildern. Was wäre das für eine Beziehung, in der man der Partnerin schon von Anfang an etwas verheimlicht? „Wir können uns leider nicht nachmittags im Biergarten treffen, liebe Eva“, sagte ich wörtlich, „weil ich von meinem Schatten verfolgt werde. Ich muss mich vor ihm verstecken und das Sonnenlicht meiden.“ Am anderen Ende der Leitung herrschte lange Stille. Dann sagte Eva zu meinem Entsetzen: „Mir fällt gerade ein, dass meine Oma 90 Jahre alt wird und ich morgen zu ihrem Geburtstag muss. Sie wohnt in Norwegen, und der ganze Ausflug dahin wird einige Wochen dauern. Ich weiß noch nicht, wann ich zurück bin. Ich melde mich.“

Das war vor etwa vier Monaten. Eva ist immer noch bei ihrer Oma. Und ich bin umgezogen. Ich wohne jetzt in einer Art WG mit allerlei seltsamen Menschen. Einer meint, Jesus zu sein, ein anderer steckt andauernd seinen Kopf in ein mit Wasser gefülltes Waschbecken, weil er demonstrieren will, wie er unter Wasser atmet. Ein paar mit grünen Kitteln bekleidete Mitbewohner haben ihn schon mehrmals vor dem Ertrinken gerettet. Das geht so nicht weiter. Ich muss mir eine andere Bleibe suchen. Doch immer, wenn ich den Grünkitteln gegenüber meinen baldigen Umzug anspreche, winken sie ab und sagen: „Ach, das hat doch noch Zeit.“

Die Grünkittel sind es auch, die mich dazu zwingen, einmal am Tag mit ihnen einen Spaziergang im großen Garten dieser seltsamen WG zu unternehmen. Das sei angeblich gut, um mich meinen Ängsten zu stellen. Was für Ängste? Ich werde bedroht. Das sind Fakten, keine Ängste. Natürlich ist mein Schatten weiter damit beschäftigt, mich zu drangsalieren. Gestern hat er eine Henkersschlinge geknüpft und heute Morgen stand er vor etwas, das aussah wie ein Fallbeil.

Jetzt überlege ich, nach Norwegen zu meiner geliebten Eva und ihrer Oma auszuwandern. Ganz oben in Spitzbergen soll im Winter niemals die Sonne aufgehen. Polarnacht. Herrlich. Bloß: Wie komme ich dahin?

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