Von Daniel Büttrich

Nachdem er die letzte rote Kugel versenkt hatte, hielt er kurz inne und spitzte sein Queue an.

Die verbliebenen farbigen Kugeln auf dem grünen Tisch weckten in ihm assoziativ den Gedanken an Weihnachten und eine Sehnsucht nach entspannten, wettbewerbsfreien Tagen mit der Familie.
Bald würde er mit Marvin wieder zum Christbaumverkauf fahren. Später säße er stolz im Wohnzimmer, einen Arm um seine Ehefrau gelegt, und würde Marvin beim Schmücken des Christbaums zusehen. Die bunten Kugeln neben den Engels- und Krippenfiguren würden ihn an seinen Beruf erinnern.

„Mit den Kugeln kannst Du nach Weihnachten Snooker spielen“, würde Marvin zu ihm sagen.

Es war ein Traum.

Die Schiedsrichterin musste ihn schon längere Zeit auffordernd angeschaut haben.

 

„Mr. McCain?“, flüsterte sie.

 

„Oh ja…. Natürlich. Beenden wir es…“, antwortete er und lächelte entschuldigend.

Er lochte die farbigen Kugeln der Reihe nach in rascher Fortsetzung ein. Gelb, grün, braun, blau, pink, schwarz. Er schloss das Spiel mit einem Break von über 100 Punkten ab, einem Century, und zog in das Finale ein. Verdammt noch einmal, er war soeben in das Finale eines Weltranglistenturniers eingezogen! Das hatte er zuletzt vor drei Jahren geschafft!

Er reichte seinem Gegner die Hand.

 

„Gutes Spiel, Dave. Ich wünsche Dir alles Gute für das Finale!“

 

„Danke, Steve. Ich hatte heute einfach Glück. Verdient hättest Du es genau so.“

Dann winkte er ins Publikum. Jetzt erst nahm er den starken Applaus und vereinzelte „Bravo“-Rufe wahr. Erleichtert und zufrieden verließ er den Spielort.

Auf dem Weg in die Kabine fing ihn Johnny Seguras ab, ein ehemaliger Weltklassespieler, der inzwischen als TV-Moderator tätig war. Seguras klopfte ihm auf die Schulter.

 

„Dave, Glückwunsch, großartiges Spiel! Komm´ kurz zu uns ins Studio.“

Bereitwillig folgte er ihm ins TV-Studio. Schon am Snookertisch hatte er Johnny Seguras als fairen Sportsmann kennengelernt.

„Dave, großes Spiel, wie schon im Viertelfinale. Du spielst bei diesem Turnier Snooker auf Weltklasseniveau und präsentierst Dich gleichzeitig bescheiden und locker im Umgang mit den Zuschauern. Cardiff liebt Dich. Im Endspiel wartet nun Peter Bogdan, der sich seit Monaten in einer fabelhaften Form präsentiert und amtierender Weltmeister ist. Wie wirst Du in die Partie gehen? Hast Du schon eine Strategie im Kopf?“

„Ich freue mich zunächst einmal über meinen Finaleinzug. Das Spiel gegen Steve war eine enge Kiste. Nach dem Interview werde ich mich in mein Hotelzimmer begeben, mit meiner Familie telefonieren und ein Nickerchen machen. Dann werde ich Hemden und Hosen bügeln, weil mich das entspannt. Tatsächlich, Bügeln entspannt mich! An das Endspiel gegen Peter Bogdan werde ich erst morgen nach dem Aufstehen denken. Ich bin in einer guten Form. Ich kann mein erstes großes Turnier seit Jahren gewinnen. Ich werde mein Bestes geben.“

Im Hotelzimmer legte er sich im Anzug aufs Bett, schaltete den Fernseher ein und zappte sich durch die Programme. Er blieb beim Sportkanal hängen, in dem gerade ein Interview mit seinem Finalgegner Peter Bogdan gezeigt wurde.

 

Bogdan lächelte überlegen in die Kamera.

 

„Ich gönne McCain den Einzug ins Finale. Aber damit hat er das Maximum erreicht. Das war im Übrigen auch keine Kunst, das Endspiel zu erreichen. In seiner Tableauhälfte gab es ein großes Favoritensterben, er musste gegen keinen Top-10-Spieler antreten. Im Gegensatz zu mir, ich hatte eine Reihe von Topspielern aus dem Weg zu räumen. Ich denke, wir können uns auf ein sehr gutes, aber nicht übermäßig spannendes und langes Spiel freuen.“

 

Bogdan bleckte die Zähne und nickte dem Reporter zu, der sofort verstand und sich für das Interview bedankte.

 

„Was für ein Arschloch!“, zischte McCain.

„Das war keine Kunst….“

Er machte die Augen zu und sah, wie er als Junge in die Küche eintrat. Sein Vater schnitt sich gerade Wurst ab. „Was willst Du, Dave?“ „Mama hat mich geschickt. Ich soll Dir was sagen.“ „Was?“
„Ich habe eine Zwei in Englisch. Ich kann auf die Realschule.“
Sein Vater sagte lange nichts und futterte stattdessen Wurst, Fleisch und Brot in sich hinein.
„Ja, und? Das ist doch keine Kunst, mein Junge. Du musst etwas mit den Händen machen. So wie ich, so wie Dein Opa. Glaubst Du, Du kannst mich mit einer guten Note in Englisch beeindrucken? Willst Du ein Lob? Vergiss es. Wenn Du später eine ehrliche Männerarbeit mit den Händen machst, dann habe ich Respekt vor Dir, aber nicht wenn Du in irgendeinem Versicherungsbüro sitzen wirst. Junge, lass mich jetzt essen. Sag Deiner Mama schöne Grüße.“

Er machte seinen Abschluss auf der Realschule, obwohl er schon damals mehr Zeit im örtlichen Snooker-Club als beim Lernen verbrachte. Rasch war ihm die Snookerhalle in seiner Heimatstadt zu klein. Zunächst reiste er als Amateur landesweit zu Turnieren. Als er schließlich nationaler Meister wurde, entschied er sich für eine Profikarriere.

Sein Vater sagte:
„Das ist doch keine Kunst, Kugeln mit einer Holzstange über einen Tisch zu schieben.“

Er antwortete:
„Du wolltest, dass ich etwas mit den Händen mache….“

Erst viel später, als er sich in die Top 16 gespielt hatte und das eine oder andere Ranglistenturnier gewann, erkannte sein Vater die Leistung seines Sohnes an. Kurz danach starb er plötzlich an Herzversagen.

Er war eingedöst. Sah auf die Uhr. Es war schon neun.

 

„Marvin. Ich muss Marvin anrufen!“, schreckte er hoch.

Hastig griff er zum Telefon.

 

„Hallo, Nicole. Ich bin es, Dave. Danke. Habt Ihr es im Fernsehen gesehen?
Ja. Wie geht es Marvin? Kann ich ihn sprechen? Er schläft schon? Ja, verstehe ich, die Fahrt war anstrengend. Wie ist es im Hotel? Na gut. Ok, wir sehen uns ja morgen. Danke, Dir auch. Bis morgen, Nicole.“

Seit einem halben Jahr war er von Nicole getrennt.

Es kam überraschend für ihn. Jahrelang schien alles zu passen. Jahrelang kam er von den Turnieren heim, war Vater und Ehemann und ernährte die Familie. Jahrelang liebte er Nicole, sie liebte ihn, sie liebten sich, es war so selbstverständlich, dass es nicht mehr ausgesprochen werden musste. Es war alles so, wie es zwischen Mann und Frau sein sollte. Er spielte Playstation mit Marvin, ging mit Marvin ins Fußballstadion, nahm Marvin zum Billardspielen mit. Gut, Nicole und er hatten immer weniger gemeinsamen Gesprächsstoff. Aber war das nicht normal für eine Beziehung? Es hatte alles gepasst für ihn. Sie hatte sich zuletzt öfter beschwert, dass er im Haushalt zu wenig mithelfe und schlampig sei. Sie schimpfte ihn. Er sagte, er müsse trainieren. Er müsse arbeiten. Er bringe schließlich das Geld nach Hause. Der Druck laste auf ihm.

„Verdammt, so ist es! Akzeptier das!“, sagte er.

Einmal weinte sie, und er schaltete den TV an.

 

Er fand das harmlos, überflüssig.

Eines Tages zog sie mit Marvin zu ihrer Mutter.

Bald würde das Weihnachtsfest sein. Vielleicht würde alles wieder gut werden.

Er schlief ein.

Sie spielten „Chelsea Dagger“ beim Einlauf.
An seinem Platz angekommen, suchte er Marvin und seine Ehefrau im Publikum. Sie saßen in der obersten Reihe. Er blinzelte Marvin zu.

Inzwischen war Bogdan eingetroffen. Im Augenwinkel bemerkte er, wie Bogdan hyperaktiv um seinen Stuhl herum tänzelte und mit dem Publikum feixte.

„Der macht einen auf Muhammad Ali“, dachte McCain und versuchte konzentriert zu bleiben.

Bogdan machte den Anstoß. Es dauerte eine Weile, bis die erste Kugel im Loch verschwand. Es war Bogdan, der einen langen Ball gekonnt einlochte. Bogdan, der nicht nur ein brillanter Safety-Spieler, sondern auch ausgezeichnet im Breakbuilding war und O‘ Sullivans schnellstes Maximum Break nur knapp verfehlt hatte, fand schnell ins Spiel hinein und beendete den ersten Frame mit einem Century. McCain blieb ruhig. Die Distanz ist lang genug, dachte er sich. Best of 19.

 

Im zweiten Frame war es knapper. Am Ende gewann Bogdan auch den. Im dritten Frame konnte McCain vorlegen, vergab aber eine Chance aufs Mittelloch und verlor auch diesen an Bogdan. Im vierten Frame lieferten sich beide ein langes Safety-Duell. Als Bogdan McCain snookerte und Foul-Punkte provozierte, gab McCain auch diesen Frame ab.

Am Ende der ersten Session stand es 1-7. Bogdan war nur 3 Frames vom Turniergewinn entfernt, und McCain hatte das Gefühl wie ein entkräfteter Radfahrer vor einem langen Aufstieg zu stehen. Der Gedanke ans Aufgeben lag nahe.

Die 2. Session begann mit einem Paukenschlag. McCain schaffte beinahe ein Maximum Break.

2-7. Dann folgte ein langer Frame, der fast eine dreiviertel Stunde dauerte. Bogdan gewann hauchdünn.

Daraufhin geschah etwas Denkwürdiges. Nach dem Anstoß trat Bogdan seitlich an McCain heran und flüsterte ihm ins Ohr:

 

„Du bist ein Loser. Hast die leichteste Auslosung aller Zeiten gehabt. Und Deine Frau hat sicher schon längst einen Anderen.“

Es war der Zidane-Moment.

McCain sah Bogdan an und überlegte kurz, ob er ihm einen Faustschlag versetzen sollte.
Dann blickte er zu Marvin und Nicole. Und er glaubte im Dunkel der oberen Ränge zu erkennen, dass beide ihm aufmunternd zulächelten.
Er dachte an seinen Vater.

Das ist doch keine Kunst…“

Oh doch, das ist eine Kunst, dachte er sich. Snooker ist Kunst! Das werde ich euch beweisen!

Sein Herz raste entschlossen, er wusste, dass er ab jetzt nur noch gewinnen konnte.

McCain gewann 3 Frames hintereinander. 5-7.

5-8.
6-8.
7-8.
7-9.
8-9.
9-9.

Die Reporter sagen in diesen Momenten stets:

 

Die Spannung ist mit den Händen zu greifen.“

Der letzte Frame dauerte ewig. In der Mitte lieferten sich beide Kontrahenten ein packendes Safety-Duell. Schließlich ging es tatsächlich um das Versenken der schwarzen Kugel, und als Bogdan nach dem Einlochen der Pinken beim sicher geglaubten Einlochen der Schwarzen versagte, nutzte McCain seine Chance.

 

Wie einst Dennis Taylor hob er seinen Queue triumphierend in die Höhe.

Statt Bogdan die Hand zu schütteln, stürmte er auf die Tribüne.

Marvin umarmte ihn weinend.

 

„Papa, ich vermisse Dich!“

 

Nicole gab ihm einen langen Kuss. Es war der Beginn von etwas Neuem.

– 2. Version –