Von Vanessa Wedekämper

Hand in Hand liefen Emma und Jonas am Strand entlang. Das Meer war außergewöhnlich ruhig, nur ab und an streifte eine größere Welle Emmas Schuhe. Außer ihnen war keiner unterwegs. Nur ein paar Möwen beobachteten sie aus der Ferne. Sie hatten den ersten sonnigen Frühlingstag genutzt, um ans Meer zu fahren. Emma liebte den Strand. Nicht nur das Wellenrauschen und die salzige Luft. Hier hatte Jonas sie auch zum ersten Mal geküsst. Das war jetzt zwei Jahre her. Auch für heute hatte Jonas etwas ganz Besonderes geplant. Denn er wusste genau: Er gehörte zu ihr.

„Wollen wir uns da vorne auf die Felsen setzten?“, fragte Jonas und zeigte auf einen großen Haufen Steine, der ein Stück ins Meer ragte. Emma nickte. Zusammen stiegen sie die Steine hoch. Doch obwohl Jonas sie mit einer Hand festhielt, rutschte Emma weg und musste sich mit einer Hand abstützen. Dabei fiel ihr Blick auf eine Flasche, die von den Wellen angespülte wurde.

„So ein schöner Ort und die Leute lassen einfach ihren Müll hier liegen“, sagte Emma, während sie sich wieder aufraffte.

Jetzt sah auch Jonas die Flasche. „Schau Mal. Da ist was drin.“

Emma beugte sich ein Stück weiter nach vorne. „Du hast recht…vielleicht die verschollene Schatzkarte von Captain Blackbeard“, sagte sie lachend. Vorsichtig kletterte sie zur Flasche. Jonas hielt sie dabei an Arm und Jacke fest, damit sie ja nicht wegrutschte. Als Emma nach der Flasche griff, wurde ihre Hand von einer Welle getroffen. Wasser schwappte in ihrem Ärmel und lief ihr kalt den Arm herunter, als sie die Falsche aus dem Wasser zog. Das Etikett war kaum noch zu erkennen und auch der Korken, der die Flasche verschloss, war stark zerschlissen.

„Hast du zufällig einen Korkenzieher dabei?“, fragte Emma, nachdem sie vergeblich versucht hatte, den Korken aus oder in die Falsche zu bekommen. Jonas lachte.

„Ne, aber was Besseres.“ Er setzte sich an den Rand des Steinhaufens und holte seinen Schlüssel raus. Mit einer schnellen Bewegung stieß er ihn in den Korken, drehte ihn kurz und konnte den Korken dann einfach herausziehen. Beeindruckt setzte Emma sich neben ihn. Er fischte den Zettel aus der Flasche und las:

 

„17.5.1918 

An Agathe Maria Schulte,

ich kann nur hoffen, dass dich diese Nachricht irgendwie erreicht. Die Lage bei uns ist schlecht, wahrscheinlich sogar aussichtslos. Aber ich kann nicht sterben, ohne dir ein letztes Mal zu schreiben. Denn kein Augenblick vergeht, ohne dass ich an dich denke. Ich weiß, ich war es, der deine Annäherungen nicht erwidert hat. Ich weiß, es ist meine Schuld, dass wir nicht liiert sind.

In den Krieg zu ziehen war schwer. Aber in dem wissen aufzubrechen, dass ich dich zurücklasse, wäre schier unvorstellbar. Ich bin ohne Verpflichtungen  und in dem Wissen, dass keiner auf mich wartet in die Schlacht gezogen. So wäre es für uns beide leichter. Dachte ich. Trotzdem gilt jeder Gedanke dir. Ich bin voller Angst dich nicht wieder zusehen und nie das Gefühl zu erleben, dich in den Armen zu halten. Zu sterben, ohne dass du weißt, dass ich dich liebe, schmerzt am meisten. Ich werde die Zeit mit dir nie vergessen und hoffe, du wirst es auch nicht. 

Dein Heinz Gustav Gottlieb Keller“

 

Jonas ließ langsam den Brief in seinen Schoß sinken. Emma hatte ihren Kopf auf seine Schulter gelegt. Damit hatte sie nicht gerechnet.

„Sie hat es nie erfahren“, sagte sie leise. Eine Weile saßen sie so da, bevor sie sich betrübt auf den Rückweg machten. Die ganze Zeit sagte keiner ein Wort. Selbst die Möwen schienen zu schweigen. Nur das leise Rauschen des Meeres war zu hören. Bei jedem Schritt erinnerte die kleine Schachtel in seiner Tasche Jonas daran, dass der Tag hätte ganz anders enden sollen.

 

In der Nacht schlief Jonas unruhig. Als er einschlief, konnte er noch immer den traurigen Klang in Emmas Stimme hören. Dann träumte er vom Krieg und von einer Liebe, die doch nicht alle Grenzen überwinden konnte. 

 

„Wo fahren wir hin?“, fragte Emma gespannt. Emma kannte weder die Gegend, noch den Ort in den sie jetzt fuhren.

„Lass dich überraschen“, antwortete Jonas mit einem Lächeln. „Ich bin mir sicher, es wird dir gefallen.“ Emma genügte das als Antwort und schaute auf die farbenfrohen Gärten, die am Fenster vorbeizogen.

Jonas parkte vor einem kleinen Haus mit wildem Garten. Der Name auf dem Klingelschild kam Emma nicht bekannt vor. Auch die Dame, die ihnen öffnete, hatte sie noch nie gesehen. Sie hatte graue Haare und tiefe Falten zeichneten ihr  Gesicht. Ihre Gesichtszüge waren warm und ein Lächeln breitete sich darauf aus, als sie die Beiden hereinbat. Es roch nach frisch gebackenem Kuchen und im Wohnzimmer stand schon der Tee auf einem Stövchen bereit. Nachdem sie allen aufgetan hatte, begann sie zu erzählen:

 

„Während eines Gefechtes wurde die Kompanie von ihrem Bataillon getrennt. Die knapp 100 Mann starke Kompanie verschanzte sich in den Ruinen einer alten Burg. Auf der einen Seite standen die Franzosen und auf der anderen schnitt ihnen ein reißender Fluss den Weg ab. Geschützt, aber vom Feind umzingelt, kam der Beschuss irgendwann zum Erliegen.

Immer wieder versuchten Soldaten oder gar Gruppen das Gebiet zu verlassen, aber der Feind war wachsam. Kaum hatte sich jemand der feindlichen Linien genähert, fielen aus der Deckung heraus tödliche Schüsse. Auch über den Fluss schien es kein Entkommen zu geben. Um ihn zu überqueren, war er zu tief und zu schnell. Sie würden direkt in Richtung der Franzosen getrieben werden.

Einige Tage vergingen, ohne dass sich was änderte. Die Vorräte wurden knapp und die Hoffnung versiegte. So schrieb Heinz besagten Brief, steckte ihn in eine Flasche und überließ sie dem Fluss. Seinem Kameraden Kalle fiel dabei auf, dass die Strömung an dem Tag noch schneller war, als an denen zuvor. Daraufhin fasste er den Entschluss, doch den Fluss zur Flucht zu nutzten. Das war zwar riskant, aber ihre einzige Chance. Heinz war sofort bereit, Kalle zu folgen. Auch ein paar andere schlossen sich den beiden an. Aber die meisten wollten abwarten, wie sich die kleine Gruppe schlug.

 

Als die Sonne endlich untergegangen war, konnten sie starten. Die Gruppe befüllte ihre Rucksäcke. Nicht zu leicht, aber auch nicht zu schwer. Der Rucksack sollte sie später Unterwasser halten, aber sie nicht hinunterziehen. Das Wichtigste packten sie in ihre Hosentaschen. Dann zogen sie die Waffenröcke aus. Schon jetzt wurden sie von der Kälte gepackt. Aber Heinz spürte es kaum, zu groß war die Anspannung, als sich die kleine Gruppe von ihren Kameraden verabschiedete.

Kalle ging als Erster. „Bis gleich“, sagte er zu Heinz und drehte sich um. Er umklammerte seinen Rucksack und watete ins eisige Wasser. Er holte tief Luft und war verschwunden. Heinz machte es ihm gleich. Sein Atem rasselte vor Aufregung. Er hatte das Gefühl nicht für einen Moment die Luft anhalten zu können. Doch er atmete tief ein und schon riss ihn die Strömung unter Wasser. Er wurde von ihr hin- und her gerissen. Schnell hatte er die Orientierung verloren. Der Sauerstoff wurde knapp, aber er traute sich nicht an die Oberfläche. Zu groß war die Angst, die feindliche Linie noch nicht überschritten zu haben. Als seine Lunge anfing zu brennen, ließ er den Rucksack los und versuchte die Oberfläche zu erreichen. Doch die Strömung wirbelte ihn herum. Panisch strampelte er sich nach oben. Für einen kurzen Moment hatte er es geschafft. Kaum lange genug, um Luft zu holen. Dann wurde er wieder in die Tiefe gerissen. Verzweifelt kämpfte er gegen die Wassermassen. Plötzlich traf ihn ein harter Schlag. Die Franzosen, dachte er einen kurzen Moment. Dann merkte er, dass die Strömung ihn gegen einen umgestürzten Baum gerissen hatte. An ihm entlang schaffte er es, sich zum Ufer zu ziehen. Erschöpft blieb er dort liegen. Erst jetzt spürte er die erbarmungslose Kälte, die ihn die ganze Zeit umfasst hatte. Nun fiel ihm wieder ein, dass er vielleicht noch nicht in Sicherheit war. Er kroch zum nächsten Gebüsch und betrachtete die Lage. Er war auf der richtigen Seite des Ufers und auch auf der anderen Seite war der Feind nicht zu sehen. War er weit genug gekommen, um die feindliche Linie zu passieren?

Ein Stöhnen riss ihn aus seinen Überlegungen. Einer seiner Kameraden wurde gegen den Baum geschleudert.

 

Immer mehr Kameraden wurden ans rettende Ufer gespült. Sie zogen ihre nasse Uniform aus und legten sie zum Trocknen hin. Tatsächlich hatten sie es weit genug geschafft, um den Franzosen zu entkommen. Aber nicht alle hatten es ans rettende Ufer geschafft. Auch Kalle tauchte nie wieder auf. Aber mit seinem Einfall hat er Heinz und vielen seiner Kameraden das Leben gerettet. Nur was aus dem Rest der Kompanie geworden ist, haben sie nie erfahren.

 

Meine Oma hat den Brief nie erhalten, aber nach einem monatelangen Fußmarsch konnte Opa ihr seine Liebe persönlich gestehen.

Wahre Liebe überwindet halt doch alle Grenzen“, schloss die ältere Dame ihre Erzählung.

Jonas reichte der Dame den Brief. Während sie den Brief las, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Doch anstatt den Brief zu behalten, gab sie ihn Jonas zusammen mit einem zweiten Papier zurück. Denn für den Brief hatte sie andere Pläne…

 

Emma und Jonas saßen wieder auf dem Steinhaufen am Meer. Die Frühlingssonne strahlte, die Möwen kreischten um die Wette und die Ebbe zog das Wasser davon. Jonas verschloss die Flasche sorgfältig mit einem neuen Korken. In einem hohen Bogen warf er die Flasche zurück ins Meer, die jetzt nicht nur den Brief von Heinz, sondern auch das Ende der Geschichte davon trug. Eine Weile schauten die beiden der Flasche hinterher, die mit jeder Welle etwas kleiner wurde. Dann drehte sich Jonas zu Emma um und zog die kleine Schachtel aus seiner Hosentasche.

 

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