Von Simone Tröger

„Ich möchte mit Euch in der Theater-AG in den nächsten Wochen ein Stück von Bertold Brecht einüben – „Die Dreigroschenoper“. Ihr kennt das bereits aus dem Unterricht. Es dürfte also bis Februar zu schaffen sein!

Jonas, du bist der geborene Mackie Messer.“ 

Er hatte in der Tat etwas Undurchsichtiges an sich und passte gut in die Londoner Unterwelt, das lag nicht nur an seinem schwarz gefärbten Haar, die tiefsitzenden Augenbrauen und dem Schnauzbart.

„Ey, Ludo, du bist zwar unser Boss und hast das Sagen, aber den spiele ich nicht. Und Jule gibt womöglich die Polly … Hab ich etwa kriminelle Energie?“

„So ist es! Jule ist die Polly! Es ist schon einmal schön, dass du dich an diesen Namen erinnerst! Jule und du, ihr seid ein Paar, wie im wahren Leben. Ihr spielt das. Da fällt es Euch beiden leichter, die Verbindung echt aussehen zu lassen.“

„Ludo, du weißt nicht, was ich weiß… Jule…“

„Aber Ludo…“

Beide kamen nicht weiter, denn ich arbeitete wieder an der Rollenverteilung. 

„Dann brauchen wir den Jonathan Peachum; Celia, seine Frau; einen Tiger Brown? Du, du und du. Perfekt. Ihr anderen seid das Volk von Soho. Keine Einwände mehr, bitte! Das steht jetzt so. Punkt. Die Handlung lest Ihr Euch bitte bis zum nächsten Mal noch einmal durch. Ruft es Euch in Erinnerung! Denkt dran, Begriffe wie `fuck you` und dergleichen gab es 1837 noch nicht.“

„Ey , Ludo, müssen wir das selbst singen?“ Levi, der Tiger Brown, hatte Angst, seine Kastratenstimme klang zu weiblich, um einen Polizeichef darzustellen. Erst recht beim Singen.

„Nee, spiele ich alles vom Band, außer die Mackie-Messer-Moritat: `und der Haifisch, der hat Zähne, und die trägt er im Gesicht…` Ihr wisst schon!“

„Was is`n die Moritat gleich nochmal?“

„Die Moritat ist so was wie die Filmmusik. Da wissen die Zuschauer schon mal grob, um was es geht.“

 

*

„Jawoll, Polly! Setze deine Schönheit ein, bringe deinen heimlich Angetrauten Mackie um den Verstand! Nein, mehr davon! Los, wie daheim auf dem Sofa! Warum zierst du dich, ihn zu küssen? 

Mackie, küssen! Gib ihr doch endlich einmal das Gefühl, sie ist die einzig existierende Frau für dich! Wie oft habe ich das schon gesagt.“

„Ludo, wir sind kein Paar mehr!“

„Na und! Schließlich wollt ihr mal Schauspieler werden. Da gehört es dazu, jemanden zu küssen, in den man nicht verliebt ist.

Jonathan, Celia – Eure Gesichter müssen traurig aussehen! Ihr seid nicht einverstanden mit der Wahl Eurer Tochter! Jonathan ist der König der Bettlermafia und somit Konkurrent von Mackie, dem Schurken!

Tiger, und du bist korrupt. Man muss spüren, dass du deine Zuneigung zu Mackie nur spielst!

Los! Nochmal mit einem Lächeln auf dem Gesicht, was du allerdings vom Zuschauer seitlich wegdrehst, aber so, dass man es noch sehen kann!“

Die folgenden Proben verliefen weitestgehend reibungslos. Das mit dem Küssen bekamen die beiden hin, auch wenn es aussah, als begrüßten sich zwei Eskimos. Die Gesichter von Pollys Eltern waren inzwischen so traurig, dass man Sorge haben musste, dass die Zuschauer gleich losheulten.

Tiger Brown hinterging seinen langjährigen Freund Mackie, ohne dass dieser es merkte.

Die jungen Schauspieler hatten ihre Rollen fabelhaft einstudiert. Das Eingangslied klang recht professionell, obwohl nicht viele Sänger verfügbar waren. Meine tiefe, über 50jährige, Stimme setzte ich natürlich auch ein.

„Leute – hier! Wir haben aus dem Fundus des Schauspielhauses einige Requisiten bekommen, die sie nicht mehr brauchen. Die könnten in die Zeit passen. `Hosenträger! ` Vielleicht gab es schon Hosenträger zu der Zeit. Sucht Euch aus, was Ihr für Euer Kostüm benötigt!“

 

*

 

Die heutige Probe war beendet. Bald hofften wir auf tosenden Beifall in der Schul-Aula.

Alle, die in eine Richtung nach Hause mussten, stiegen in die Bahn der Linie 5. Die Mimen waren noch ganz in der Unterwelt der britischen Hauptstadt des vorletzten Jahrhunderts.

Ermüdet von meinen Regieanweisungen setzte ich mich auf den nahen freien Platz und „schaute“ mit geschlossenen Augen dem Treiben meiner beiden Hauptdarsteller, Jule und Jonas, alias Polly Peachum und Mackie Messer, zu. Die zwei standen hör- und sichtbar für die Mitfahrenden des Wagens im vorderen Drittel des Zuges.

 

„Du bist genau wie Mackie Messer. Kenne ich all deine verfickten Schlampen? Wie viele sind es denn? Wie im Theaterstück? Man sollte dich verhaften. Du, du…!“

„Halts Maul!“

„Nie wieder spiele ich mit dir die Hauptrolle. Nicht im Theater und nicht privat. Du Perversling!“

„Na und, glaubst du, ich mit dir?!“

„Ich sag dir, du wirst es bereuen, was du mit mir abziehst!“

„Ich bereue nur, mich auf dich eingelassen zu haben!“

„Ludo kann sich eine andere Polly suchen. Mit dir gehe ich nicht auf die Bühne!“

 

*

 

Der Zug blieb abrupt stehen.

Fast alle Leute kreuzten ihre Beine unter andere Gliedmaßen hindurch und versuchten, aufzustehen. Jule befand sich unter Jonas; ich beinahe unter dem Sitz.

Für einen Moment war ich tatsächlich eingenickt. Den Dialog hörte ich aus der Ferne.

Realisieren konnte ich daher nicht, weshalb die Bremsung eingeleitet wurde.

Benommen erhob ich mich und ging nach vorn, da ich dachte, einem von beiden ist schlecht geworden nach ihrer Szene. Noch hoffte ich, mich zu täuschen. Dann sah ich genauer hin. Jonas lag mit dem Kopf zur Seite, das Messer in Höhe seines Herzens. Blut tränkte seine Brust. 

Kein Theaterblut! Kein Theatermesser! Er atmete nicht!

Jule, die sich inzwischen von der Last auf ihrem Oberkörper befreit hatte, saß nun auf dem Boden des Zuges, aschfahl, wie schmutziger Schnee.

Die Menschen im Zug, die das Spektakel miterlebten, tuschelten, zückten ihre Handys und machten Sensationsfotos. Kinder weinten. Andere Leute versuchten, aus der Bahn zu gelangen. Das war allerdings nicht möglich, denn der Zugführer sorgte dafür, dass die Polizei gleich eintraf, Weiteres veranlasste und vorher keiner den Zug verließ.

Nach Atem ringend, wie ein Taucher ohne Sauerstofflasche, stand ich mit offenem Mund im Zug und blickte mich hilfesuchend um. Keiner nahm Notiz von mir. Niemand war da, der sich sorgte.

Für mich sah es so aus, als hatte Jule die Notbremse gezogen, durch den Ruck ist Jonas über Kopf direkt ins Messer gefallen. 

Eventuell hatte auch wer anders die Notbremse gezogen. Warum auch immer. Das wollte ich glauben.

Um das aber herauszufinden, ermittelten die Beamten in Uniform.

Jule selbst sprach kein Wort und wurde ins Polizeiauto geführt. Sie war abwesend und wirkte unzurechnungsfähig; so stellte ich mir einen von Drogen Abhängigen vor.

Raus hier, denn ich musste mich übergeben! Glücklicherweise stand der Zug noch, und die Türen ließen sich jetzt öffnen.

Meine Gedanken waren jetzt bei Jule. Vorsatz oder Zufall?  Jule, Täterin oder nicht?  Die Eltern hatten auf jeden Fall das Recht, durch mich von dem „Vorfall“ zu erfahren.

Jonas, ebenfalls noch nicht volljährig, und tot. Arglos erwarteten die Eltern ihren Sohn heute Abend von der Theaterprobe zurück…

Ob die Polizisten ihnen die Todesnachricht baldigst überbrachten, wusste ich nicht. Daher legte ich mir Worte zurecht, um ihnen die Sache nahezubringen.

Es war das mindeste, was ich für meine Darsteller tun konnte.

Meinen Weg setzte ich zu Fuß fort.

 

Die Vorstellung „Die Dreigroschenoper“ gab es nicht.

 

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