Von Ricarda Köhler

Der Saal ist fast voll, es müssten inzwischen alle Gäste da sein. Ich strecke meinen Rücken durch und nehme meine Schultern ein wenig zurück. Greife mir ein bereitstehendes Sektglas von der Bar und gehe langsam durch die feiernde und plaudernde Menge. Ich bin so euphorisch wie schon lange nicht mehr, so voller Lebenslust. Trotzdem ist mir etwas flau im Magen, aber das wird sich sicher gleich geben.

Ich erkenne Klaus und Susanne unter den vielen Leuten, gerade von den Malediven zurück. Beide sportlich und durchtrainiert, Susanne trägt ihre blonden, langen Haare offen, fast bis hierher kann ich ihr aufdringliches, süßes Parfüm riechen, das einem den Atem verschlägt. Klaus Haare fallen ebenfalls lang und lockig, aber fast komplett grau, auf seine Schultern, die Sonnenbrille locker im Haar. Ein oberflächigeres Pärchen gibt es wohl kaum, oberflächlich und scheinheilig! Oder würde Susanne mir auch in schweren Zeiten beistehen? Unsere Augen treffen sich und sie hebt ihr gerade gereichtes Sektglas zum Gruß mit ihrem charmanten strahlenden Lächeln, bei dem ihre weißen Zähne in ihrem sonnengebräunten Gesicht gut zur Geltung kommen. Freundlich lächelnd grüße ich zurück.

Meine Schwiegereltern etwas abseitsstehend, sind inzwischen etwas dünn geworden, mit 80 und 82 Jahren, aber immer noch adrett gekleidet. Meine Schwiegermutter im Chanel Kostümchen, wie immer Contenance bewahrend, sie hat meinen Schwiegervater eingehakt, der in einem tadellos sitzenden Anzug und einer dunkelroten Krawatte immer noch attraktiv ist. Ich frage mich, ob ich gleich den karierten Regenschirm von meiner Schwiegermutter über den Kopf gezogen bekomme, den sie locker über ihrem Arm neben ihrer Handtasche trägt. Warum hat sie eigentlich den Regenschirm hier im Saal?

„Typisch Marianne, mal wieder auf alles vorbereitet!“ geht es mir durch den Kopf.

„Lisa, träumst du?“, spricht mich meine Freundin Katrin, mit einem liebevollen Stups in die Seite, an.  „Ich habe dir jetzt bereits zweimal zugerufen. Ich will mit dir anstoßen!“

Katrin, meine wahrscheinlich einzige Verbündete hier im Raum, die einzige mit der ich auch mal ein halbwegs ehrliches Wort sprechen kann.

„Hoffentlich versteht Katrin mich!“, geht es mir durch den Kopf.

Katrin, die auch nichts von Schönheitsoperationen hält und wir schon öfter über die eine oder andere gelästert haben, wo die äußere Lage sich nach dem Eingriff eher verschlimmbessert hat. Denn naturschön ist hier keiner mehr, bis auf die Ehefrau von Marc, aber die zählt nicht, die ist 20 Jahre jünger als er.

Meine Eltern entdecke ich mitten in der Menge, klar, dass mein Vater sich wieder mit Rechtsanwalt Thomsen unterhält. Wie froh war Vater damals als Andreas und ich heirateten. Natürlich nicht, weil ich endlich glücklich war, sondern weil Andreas ein erfolgreicher Unternehmer ist, Geld hatte und aus einer guten Familie kommt, die ja ach so hervorragend zu unserer passt. Oberflächlich und langweilig.

Der Bürgermeister und seine Frau sind ja auch da. Der wollte doch eigentlich nicht. Ist wahrscheinlich auch nur gekommen, weil er mal wieder auf Wählerfang ist, bei der letzten Wahl hatte er nicht besonders gut abgeschnitten.

„Nach der Wahl ist vor der Wahl!“, hat seine Souffleuse Sophie ihm wahrscheinlich zugeflüstert.

Diese Feier wollte sich keiner in der Stadt entgehen lassen. Jedenfalls keiner, der was auf sich hält.

Ich muss lächeln, als ich, nicht weit vom Bürgermeister den Inhaber der großen Werbeagentur unserer Stadt, Matthias, entdecke, mit seiner Angetrauten Ulrike.
Dass der sich hierher traut, wo doch die ganze Stadt weiß, dass er und Sophie seit Jahren ein Verhältnis haben. Nicht wirklich zu verheimlichen war das, als die beiden von dem größten Klatschmaul und Frau vom Rechtsanwalt Thomsen, Marie, auf dem Waldparkplatz entdeckt wurden. Marie wollte joggen gehen, wie natürlich täglich, hat ja auch nichts zu tun, und da war dieses Auto. Marie wusste gleich, dass dies nur Matthias gehören konnte. Marie ärgerte sich quasi wöchentlich über seine schlechten Parkmanieren im Golfclub. Und auch auf dem Waldparkplatz parkte er natürlich quer mit seinem Mercedes AMG. Später erzählte Marie, sie wollte ihm gerade die Leviten lesen und einen Zettel an seine Scheibe kleben, als sie verdächtige Geräusche hörte. Sie ging den Geräuschen nach und hinter zwei Bäumen parkte der Kombi von Sophie.

Zum Unglück von Matthias und Sophie war einer ihrer sorgfältig drapierten Stoffe zum Verdecken wohl verrutscht. Marie erhaschte einen Blick auf die gerade zum dritten Mal gemachten Titten von der Frau Bürgermeister und den wohlgeformten Hintern von Matthias. Kurz danach wusste es die ganze Stadt.

„Zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort“, sag ich da nur.

Wobei ich mich hinterher immer gefragt habe, wieso Marie eigentlich den Hintern von Matthias erkennen konnte, aber das ist ja auch nicht wirklich meine Sache.

Marie war es dann auch, die mir die Sache mit Susi brühwarm erzählt hat. Ich meine Susi, die Sekretärin von Andreas, der Klassiker schlechthin, wie konnte ich nur so dumm sein. Das brachte bei mir auch das Fass zum Überlaufen, neben diesem ewigen: nach außen hui, nach innen pfui.

Ach, auch Regina ist gekommen. Sie ist die amtierende Clubmeisterin. Aber, mein Gott, war das peinlich, als sie die Meisterschaft gewonnen hat. Sie hatte sich so betrunken, dass die beiden Pros sie aus dem Clubhaus quasi raustragen mussten. Auch für Hajo wirklich unangenehm, denn zunächst beglückte Regina das Puttinggreen mit neuer Farbe, dann den AMG vom Schwerenöter und am Ende entledigte sie sich dem Champagner im werksneuen Tesla von Hajo selbst.

„Lisa, meine Liebste, da bist du ja!“

Meine Mutter gesellt sich zu Katrin und mir mit einem Sektglas.

„Ich freu mich schon auf deine Rede, sie wird wahrscheinlich wieder der Knüller! Hoffentlich triffst du den richtigen Ton“. 

Das will ich ihr lieber nicht versprechen, denn dass sie meine Rede als „den richtigen Ton“ empfindet, ist eher unwahrscheinlich.

Bevor ich jedoch die Rede beginnen konnte, musste ich erstmal meinen Ehrengast finden.

Ich gehe auf Zehenspitzen und durchsuche mit meinen Blicken nochmal den Raum. Lächle einigen Leuten zu oder hebe das Glas zum Gruß.

Schließlich treffen sich Toms und meine Blicke. Mein Flattern in der Magengegend wird schlimmer, ein heißer Schauer geht durch meinen Körper bis in meine Lenden. Tom sieht wie nicht von dieser Welt aus, ebenfalls grau und langhaarig mit einem kleinen Zopf, aber dazu kariertes Hemd und Motorradkluft.

Nein, wirklich nicht von dieser Welt, jedenfalls nicht der Welt dieser Leute. Hat immer sein Leben gelebt und sich nie verbiegen lassen. Dies war auch der Grund, warum Andreas ihn eigentlich nicht einladen wollte. Ich musste ihn regelrecht überreden seinen langjährigen Kumpel einzuladen, nur, weil er nicht in diese Gesellschaft passte und Andreas Angst hatte, er würde ihn am Ende blamieren. Dankeschön, Andreas, dass du es trotzdem getan hast.
Tom und ich lächeln uns lange an und wir können in unseren Augen alles lesen, müssen es nicht aussprechen, weil wir beide wissen, was gleich kommt. Und zwar nur wir beide!

Selbstbewusst betrete ich die Bühne, nehme mir das Mikrophon und puste rein, damit ich die Aufmerksamkeit bekomme.

„Meine lieben Freunde, liebe Verwandte, liebe Gäste, bevor ich euch in Ruhe feiern lasse, möchte ich euch noch mit einer kleinen Rede beglücken!“

Ein kleiner Applaus geht durch die Menge und die Leute drehen sich zur Bühne.

„Wir sind heute hier, weil wir den 50. Geburtstag von Andreas feiern wollen. Mit allem Drum und Dran, mit allem Zipp und Zapp. Wir haben keine Kosten und Mühen gescheut, um mit Euch zu tanzen, zu essen und zu trinken.
Wenn Andreas Glück hat, hat er noch die andere Hälfte vom Leben vor sich oder auch Pech, je nach Zustand. Und dabei meine ich gesundheitlichen Zustand, nicht alkoholischen Zustand.“

Ein kleiner Lacher in der Menge von Marie, mit der wir letztes Jahr auf dem Weinfest waren und wo wir gemeinsam nach Hause wankten. Klar, die hätte damals Andreas am Liebsten in ihr Bett gezogen, wie eigentlich schon seit Jahren.

 „Viele Jahre liegen also damit schon hinter uns und viele Jahren werden noch vor uns liegen. Damit ist es an der Zeit heute hier mit einem halben Jahrhundert im Gepäck Bilanz zu ziehen. Zurück, aber eben auch vorwärts zu schauen. Von den vergangenen Jahren waren vor allem viele Jahre auch gemeinsame – 28 an der Zahl. Wir haben viele Projekte gemeistert, uns auseinander gelebt, uns wieder zusammengefunden und wieder verloren. Deine treue, gebildete und doch anpassungsfähige Ehefrau immer an deiner Seite, das war dir wichtig. Wir haben gelacht, getrunken und gefeiert.“

„Prost, Lisa!“ ruft Hajo aus der Mitte mir zu.     

„Allerdings feiern lassen hast meist nur du dich für unsere Projekte. Deshalb darfst du dich auch heute für dein größtes Projekt, der Susi, alleine feiern lassen.“

Betretenes Schweigen.

„Leider muss ich dir heute sagen, dass ich mich entschlossen habe, dass zwar die Zukunft ungewiss ist, ich aber weiß, wohin ich gehe!“

Andreas steht am Rand der Bühne und wollte diese eigentlich während meiner Rede betreten, um mit den Leuten anzustoßen, jetzt aber sehe ich ihn in einem mir unbekannten Zustand: völlig blass, als ob keine Bräune mehr in seinem Gesicht wäre und mit offenem Mund.

Vor der Bühne jedoch stehen Tom und sein Verlobter Ralf, sie strecken ihre Hände aus und ich ergreife sie direkt. Bevor ich springe, rufe ich noch laut: „Ich bin dann mal weg!“ und etwas leiser zu Tom: „…und komm auch nicht mehr wieder! Danke für deine Unterstützung!“

Ich renne durch die staunenden Leute, die meisten völlig erstarrt, außer meiner Schwiegermutter, die tatsächlich ihren Schirm drohend über ihrem Kopf kreisen lässt und mein Vater, der mir entsetzt irgendwas hinterherruft, was ich nicht hören kann und auch nicht hören will.

Ich fühle mich frei, wie noch nie in meinem Leben, ausgebrochen aus dem goldenen Käfig! Nicht ein Mal werde ich mich umblicken, nicht ein Mal zurückgehen.

Version 2