Von Eva Fischer

Die bunten Blumen auf dem Maxikleid schlängeln sich um ihren Körper. Lange Haare wie Ebenholz umrahmen ihr Gesicht. Die Augen leuchten azurblau zwischen den schwarzen Lidstrichen.

Endlich! Endlich bekommt sie das ersehnte Zeugnis. Die Tore zur Freiheit stehen weit offen! Sie streckt ihre Hand aus und legt das weiße Papier zärtlich an ihre Brust.

So kann nur eine Neunzehnjährige denken. Freiheit ist immer relativ. Aber mit dem Abizeugnis in der Hand muss sie keine Schulbank mehr drücken, sich keinem Stundenplan mehr beugen, sich nicht mehr mit Mathe und Latein quälen. Sie darf sich ihren Stundenplan selbst zusammenstellen, ihre Lieblingsfächer studieren. Tische und Bänke stehen bald nicht mehr auf einer Ebene, sondern von oben nach unten oder von unten nach oben, je nach Blickwinkel. In wenigen Monaten kann sie sich immatrikulieren lassen. Ein sperriges, altmodisches Wort, aber für sie ist es berauschend und voller Poesie. 

*

  1. Oktober 

Ein langer Lulatsch steht vor ihr. Ganz offensichtlich gibt es Probleme mit seiner Immatrikulation. Sie hört nicht genau hin, wartet, bis sie an der Reihe ist. 

Sie zeigt ihr Zeugnis vor und erhält die schriftliche Bestätigung, dass sie nun Studentin ist. Sie könnte die ganze Welt umarmen. Mit erhobenem Haupt und federndem Schritt eilt sie zur Straßenbahnhaltestelle, streckt ihr Gesicht der Sonne entgegen und lächelt wonniglich.

Dennoch spürt sie, dass jemand sie anschaut. Der lange Lulatsch von eben. Bis jetzt hat sie nur seine Rückseite gesehen, nun schaut sie in grau-blaue Augen. 

„Entschuldigen Sie. Ich wollte fragen, ob Sie Zeit haben, mit mir eine Tasse Kaffee zu trinken.“

Er bemerkt ihr Zögern.

„Ich bin neu hier in der Stadt.“

Sie mustert ihn. Warum nicht, denkt sie. Einen unbekannten Studenten kennenlernen. Dieses neue Leben steckt voller Abenteuer. Warum die Gelegenheit nicht nutzen!  

Ihr Lächeln gilt nun ihm. Sie führt ihn zu einem nah gelegenen Eis-Café. Sie ist nämlich nicht neu in dieser Stadt. Schon lange nicht mehr.

Sie erfährt, dass er Medizin studiert und bereits einige Semester in Wien hinter sich hat. Das Physikum ist abgeschlossen. Trotz der Erinnerung an berühmte Köpfe wie Sigmund Freud fühlte er sich einsam in dem großen Unikomplex. Deshalb ist er nach Deutschland zurückgekehrt. Hier ist es sicherlich einfacher, neue Kontakte zu knüpfen. Er zwinkert ihr zu.

Seine spitzen Knie berühren fast die ihren unter dem runden Bistrotisch. Sie hat das Gefühl, sie muss sich um diesen zu großen Lulatsch kümmern. Er wirkt irgendwie so unbeholfen. 

Helfersyndrom nennt man das. Und in den russischen Romanen liest sie später von den Heldinnen, welche die armen Seelen retten wollen. Wer ist hier nicht mehr zu retten? Sie brennt lichterloh. Er möchte sie gern wiedersehen, sagt er. Sie nickt. Mit jedem Schritt, den sie sich von ihm entfernt, wächst die Sehnsucht.

*

„Deshabillez-moi“, singt Juliette Gréco mit rauchiger Stimme. Die Schallplatte dreht sich wollüstig im Kreis. Der lange Lulatsch hat jetzt einen Namen. Er heißt Orlando. Seine Mutter liebt italienische Opern. Orlando sieht eher wie ein Hüne aus, nicht wie ein zartgliedriger Italiener.

„Deshabillez-moi avec délicatesse“, bittet Juliette. Orlando kann kein Französisch. Seine Hände nesteln dennoch an ihrer Bluse.

Draußen klopft es an die Tür. „Marie, lass mich rein!“, fordert eine männliche Stimme. Sie kennt diese Stimme nur zu gut. Vor dem 5.Oktober war er ihr Freund und Geliebter. Nun möchte sie, dass er geht. Sie hat ihm gesagt, dass sie jetzt in einen anderen verliebt ist. Aber er will es nicht akzeptieren. 

„Marie, mach auf! Ich weiß, dass du da bist.“ Das Klopfen wird lauter und aggressiver.  

„Marie, bitte!“ Es klingt wie das Winseln eines Hundes.

Sie möchte sich die Ohren zuhalten. Liebe, die nicht erwidert wird, ist die Hölle. Für beide.

Orlandos Griff nach dem Büstenhalter wird selbstbewusster. Er bewundert, was der BH freigibt, und massiert zärtlich ihre Brüste.  

„Du bist eine Femme fatale“, flüstert er ihr ins Ohr. Es klingt wie ein Kompliment.

Ihr Herz schlägt wie das eines verängstigten Vögelchens. Wann hört das Klopfen an der Haustür endlich auf, denkt sie. 

*

„Nights in White Satin“ füllen den Keller mit Musik. Die Studenten stehen am Tresen und halten sich an einem Bier fest. Guinness mit Portwein. Das haut rein. Nur wenige Pärchen umklammern sich auf der kleinen Tanzfläche. Einige sitzen an den schmalen Tischen und diskutieren oder knutschen. Kerzen tropfen unregelmäßig von leeren Flaschen und spenden spärliches Licht. 

„Schwarz oder weiß?“ Marie tippt auf seine linke, geballte Faust und Orlando lässt einen weißen Bauern auf den Holztisch klackern. Sie stellt auch die übrigen Figuren auf das Schachbrett und zieht an ihrer Zigarette, bevor sie den ersten Zug macht. Der erste Zug ist nicht schwer. Der erste Zug ist Routine. Brenzlig wird es immer erst später. Sie liebt es, wenn er angespannt nachdenkt und ihr einen flüchtigen Kuss auf ihre agierende Hand gibt. 

„Never reaching the end.“ Die Zeiger auf der Uhr bewegen sich nicht mehr. Ein Standbild, an das sie sich ewig erinnern wird.

„Caus’ I love you“, singen beide im Chor.

Es ist egal, wer gewinnt. Es gibt immer wieder ein neues Spiel.

„Du bist meine Göttin!“, sagt er und sie glaubt ihm, weiß noch nichts von der Vergänglichkeit der Wörter. 

*

Auf dem Podium liegt eine Leiche mit einem weißen Leintuch bedeckt. Sie kann sehen, dass es ein alter Mann ist. Sie hat nicht gewusst, dass die Leiche ihr so nah ist. Es gibt nur drei Sitzreihen. Die Neugier kämpft gegen die Angst. Zu gerne würde sie sehen, wie der Mensch von innen aussieht. Aber sie fürchtet, sie erträgt nicht, wie er vor ihren Augen in Kleinteile zerlegt wird. Viel lieber hätte sie es, wenn man Herz und Lunge, Knochen und Muskeln wieder zusammensetzen könnte zu einem neuen Menschen. Orlando sieht ihre Leichenblässe. 

„Du musst nicht bleiben, wenn du nicht willst“, flüstert er ihr zu. Sie schaut sich um. Nur wenige Studenten sind bei diesem Präparierkurs anwesend. 

Sie steht auf, geht in den Park und schaut, wie die Bäume Knospen bilden.

*

Der Boden unter ihr schwankt. Hilfesuchend will sie seinen Arm packen, doch sie greift ins Leere. Er hat festen Boden unter den Füßen, hat das Schiff für die Amsterdamer Rundfahrt schon verlassen und zwinkert einer vorbeigehenden Touristin zu.

Marie spürt ein schmerzhaftes Ziehen in ihrem Unterleib. Sie denkt an das Kind, das die Krönung ihrer Beziehung hätte sein können. 

„Ich kann noch keine Familie ernähren“, hat er gesagt. 

„Als sie einander acht Jahre kannten

(und man darf sagen: sie kannten sich gut),

kam ihre Liebe plötzlich abhanden.

Wie anderen Leuten ein Stock oder Hut.“

Dieses Gedicht von Erich Kästner kann er auswendig. Sie hat sich gefragt, warum er es immer wieder rezitiert hat. Jetzt weiß sie es. Sie schaffen nur vier Jahre.

*

Marie kaut an ihren Fingernägeln. Wird sie das Examen bestehen? Ihr Gegenüber schenkt ihr ein aufforderndes Kopfnicken.

„Fräulein Winter, erzählen Sie uns bitte etwas über Candide, den Helden des gleichnamigen Romans von Voltaire.“

„Il faut cultiver son jardin.”

“Genau! Entwickeln Sie vom Ende her die Grundgedanken, die Voltaire in Candide lebendig werden lässt.“

Sie weiß nicht, warum ihr dieser Candide gefällt. Er macht so viel durch. Doch am Ende findet er seinen Garten, sein kleines Stück Land, das er beackern kann.

Die Worte sprudeln nach anfänglichem Stocken aus ihr hervor. Das Gespräch mit dem Prof macht ihr richtig Spaß. Wann hat man schon dazu die Gelegenheit? 

„Fräulein Winter, Sie können jetzt aufhören“, stoppt er ihren Elan.

„Sie haben die Prüfung bestanden“.

Sie lächelt ihn an, möchte ihn am liebsten umarmen.  

Draußen wartet die Freundin und drückt sie an ihre Brust. 

„Komm! Das müssen wir feiern. Das Studentenleben ist vorbei. Jetzt beginnt für dich der Ernst des Lebens.“