Von Clara Sinn

„Ich war neunzehn“, sagte sie, „als ich das erste Mal in Urlaub war.“ Das war Rimini.

Und sie war noch ein zweites Mal in Urlaub gewesen. In Miami. Beach.

 

Sie dachte an dieses offene Kind. Jeglichen Autonomiestrebens systematisch beraubt. 

 

Sie wäre so gerne alleine zur Tante gefahren. Mit dem Bus. Mit sechs. 

Oder mit dem Zug zu ihrem Lieblings-Cousin. Josef.

 

Sie räkelte sich ausführlich, strich sich die fettigen, vernachlässigten Haare aus dem Gesicht. 

 

Rief sich zum 1000sten Mal ihre alljährlichen Urlaube herbei. Am Schwarzen Meer. Mit den Eltern oder auch der Tante. Ihre alljährlichen Zwangs-Urlaube. Unter Kuratel.

 

Die waren als Therapie gemeint. Für ihre dünnen Knöchelchen. Seit sie ein Jahr alt war, fuhren ihre armen Eltern jedes Jahr mit ihr ans Meer. Wegen der UV-Strahlen. 

 

Die morgens um fünf und abends vor der Dämmerung am intensivsten sein sollten. Weswegen sie immer aus dem Schlaf gerüttelt und zum Stand geschleift wurde für die erste Strahlen-Dosis. Wobei ihre Eltern das mochten. Diesen Sonnenaufgang, wenn die emporfliegenden Möwen die tiefrote Sonne heraufzogen aus dem Wasser. 

 

Sie wäre so gerne geschwommen. Aber ihre Mutter hatte Angst. Punkt. Als schlechte Mutter zu gelten, falls etwas passieren sollte. Immerhin hatte sie sich, gleich mit 18, einen Schwimmkurs geleistet. Im Südbad. Mit dem großen Becken. Für 350 Mark.

 

Musste plötzlich in heilloses Lachen ausbrechen, Rimini. Sie war volljährig, sie war entscheidungsmächtig, sie hatte genug Geld für den Reisebus, der Totalausfall. Alles voll ekligem, bräunlichem Algenschaum. Eine durchgehende nicht überblickbar so weithin ausgedehnte schleimige Soße, die da ungeniert auf der Oberfläche lagerte und am ganzen Leib festklebte, wenn man sich überwand, schwimmen zu wollen. 

 

Da fiel ihr ein, dass sie mit ihren Eltern irgendwann einmal auch in Kroatien war. Steine statt Strand und massenweise Seeigel. Leider nicht nur schwarze, die man sehen, sondern auch weiße, die man im Wasser kaum ausmachen konnte. Den ganzen Tag, und jetzt erstickte sie fast vor Lachen, war sie auf ihrer Decke damit beschäftigt, mit Nadel, Nagelschere und Pinzette, abgebrochene Stacheln aus dem Fleisch zu pulen. Zumeist Entzündete. Vom Tanzen in der Disco. Auf High Heels. 

 

Und Miami? Fast hätte sie geantwortet, höchste Verbrechensrate in den gesamten vereinigten Staaten. Aber es war wirklich so, wie im Film, alle vier bis sechs Stunden, auch nachts, Polizeisirenen und rasante Verfolgungsjagden mit dem Auto wild über Straße, Promenade, Strand. Zwei Mal Schusswechsel, einmal ziemlich direkt dabei, nicht ganz unlebensgefährlich.   

 

Da fiel es ihr plötzlich wieder ein.

 

‚You’ve many frieds now‘, hatte er gesagt. 

 

Sie hatte ihre Banane und hinterher auch die Schale an die Möwen verfüttert. Eine beträchtliche Schar stritt sich um die mal größer und mal kleiner geratenen Stücke.

 

Er hatte sie mitgenommen. 

 

Ein studentisches Zimmer. Und ein kleiner, aber gehorsamer Schwanz. 

 

Er hatte ihr auf Hals und Haar gespritzt und ihr weinrotes Strandkleid. Und sie vermochte sich nicht zu entscheiden, ob es schade darum war. 

 

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