Von Maria Lehner

Damals war ich neunzehn, Margret auch. Wir waren in manchem verwechselbar, tickten in vielem ziemlich ähnlich, waren in anderem aber doch grundverschieden.

Ach, Margret! Das waren noch Zeiten: Wenn zu dieser Zeit die Rede von einer jungen Frau gewesen ist, war in (manchen!) Männerfantasien das Bild von der „Puppe“ nicht weit weg. Rüschenverzierter Spitzenrock, üppig drapiert das Haar. Zierlich sitzt sie am Bett; gespreizt sind die Beine, sonst fällt sie um. Von einer solchen Puppe ist nicht die Rede.

Hier geht es um eine Puppe in der Zoologie. Um das meist fast völlig bewegungslose Übergangsstadium zwischen der Insektenlarve und dem geschlechtsreifen Vollinsekt (dem Imago).

Neunzehnhundertdreiundsiebzig

Margret denkt also „Nun bin ich neunzehn“ und meint, das müsse eine bedeutende Zäsur in ihrem Leben sein.  Kurz darauf sagt sie ihren Eltern, dass sie und er miteinander leben wollen. Beide haben ihre Ausbildungen beendet und sind beruflich integriert. Sie sind auch schon zwei Jahre lang ein Paar, warum also nicht? Man verlobt sich in einem solchen Fall, sagen seine Eltern. Na gut.

Zusammen-Leben bedeutet: Grellbunte Nächte und trübfarbene Schmutzwäscheberge. Eine dunkle möblierte Mietwohnung in einem nicht grade feinen Stadtviertel. Da ist die ermunternde Beteuerung beider Elternpaare, dass es ihnen „damals“ auch nicht besser ergangen ist und man gemeinsam alles schafft: Ist ja nur fürs Erste!

Originalzitat Vermieterin „… und weisen wir Sie darauf hin, dass das Anbringen bunter Vorhänge sowie jede Umgestaltung des von Ihnen als möbliert gemieteten Objekts unserer schriftlichen Einwilligung bedürfte, die Ihnen hiermit generell verweigert wird.“ Der eingeschriebene Brief, sagt Margret, enthält die Antwort auf die Frage, ob sie neue Duschvorhänge aufhängen dürfe. Sie hat sie der Vermieterin, die sie jeden Tag auf der Treppe trifft, persönlich gestellt.

Wie die Aussicht ist? „Glücklich, alles in allem.“

Die Puppe entsteht im Übrigen erst nach einer Häutung. Aus dem letzten Larvenstadium häutet sie sich selbst zur Imago. Das bringt mit sich, dass die Puppe aushungern muss.  Jetzt werden Flügel, Komplexaugen, Begattungsorgane neu angelegt.

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Neunzehnhundertvierundsiebzig

Der Speisezettel der beiden ist wenig abwechslungsreich. Karl Kraus interessiert die junge Frau mehr als Kochbücher. Es gibt Suppen aus dem Päckchen, Linsen aus der Dose. Tatsächlich existiert damals ein Kochbuch mit dem Titel „Lerne kochen, liebe Tochter“. Für solche wie sie. Margret wird von seiner Mutter instruiert „Salat mindestens zehnmal waschen, Zwiebel nicht zu stark anrösten“ und so weiter. Luftanhaltend ein erstes Mal fühlen: Ganz schön eng, das alles. Aber im Sommer werden sie ans Meer fahren.

Sie sagt: „Warten auf seine Schritte, das Herz bis zum Hals klopfen fühlen, wenn er gegen zwei Uhr morgens heimkommt, der Bier-Atem hereinweht und die Haare nach Pommes frites riechen. Morgens sein Gesicht mit Schlaffalten sehen und unrasiert. Die Sachen herauslegen: sauberes Hemd, frisch geputztes Sakko, gebügelte Hose, farblich passend Socken und Krawatte. Wenn er sich rasiert hat und nach Herrenparfum duftet, bin ich längst aus dem Haus“. Den ganzen Winter lang ordnet Margret die Fotos vom Meer in einem Album.

Und sonst so? „Glücklich meistens“.

Bei der letzten Häutung, dem Schlupf der Imago aus der Puppenhaut, erlangen die Organe dann nur noch ihre endgültige Form und härten aus. Bevor das letzte Larvenstadium sich zur Puppe häutet, verliert es in der Regel bereits seine Bewegungsfähigkeit.

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Neunzehnhundertfünfundsiebzig

Beide sind sie noch nicht fertig mit dem Erwachsen-Werden. Sie mag sich keine Schürze umbinden und sich keine Dauerwelle legen lassen; er mag sich nicht um die Geldanlage kümmern und engagiert sich nicht bei kleinen Haushaltsreparaturen („Ich habe zwei linke Hände“).

Seine Mutter sagt: „Ja vor einem Jahr wollte sie noch eine Zusatzausbildung machen – aber nun… Gottlob… eine Frau gehört ins Haus, sonst kommt der Mann noch auf dumme Gedanken“.

Die Eltern des jungen Mannes drängen in das Leben der beiden. Tauchen am Samstagmorgen mit dem Picknickkorb auf: „Wie kann man nur so lang schlafen, bei dem Wetter!“ Sie sind glücklich, weil sie nun plötzlich ein weiteres Kind, eine Tochter, haben. Sie konstruieren für sie in penetranter Umsichtigkeit eine Welt zwischen Fischereiverband und Gesangsverein. Sein Befinden kann man am Blutdruckmessgerät ablesen. Und Mama kocht immer gern für alle. Dann schmeckts wenigstens.

Und das heißt…? „Glücklich, in etwa“.

Viele innere Organe werden funktionslos und abgebaut. Dieses Stadium wird oft „Präpuppe“ genannt. Nach der Häutung zur Puppe werden oft weitere Teile des Körpers vollkommen entdifferenziert und abgebaut.

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Neunzehnhundertsechsundsiebzig

Trotz alledem: stoppellockenumrahmtes Hochzeitsgesicht; er im Cutaway. Ehrlich gesagt, fand ich immer: Großkotzig sehen sie aus. Kitschiges Brimborium, weißes Rüschenkleid, Empfang im ersten Haus am Platz. Ich habe ein Bild geknipst, auf dem sie nebeneinanderstehen und in unterschiedliche Richtungen schauen.

Sie trägt jetzt seinen Namen und findet die eigene Unterschrift fremd. Seine Lieblingsgerichte kocht sie, obwohl: „Bei Mama hat das anders geschmeckt!“ Gelehrig versteht Margret die pseudorussischen Sprachfetzen des Schwiegervaters (ach ja, die Kriegsgefangenschaft) so, wie er sie verstanden haben will. Das Blühen der Flamingoblume bestaunt sie als Sensation. Manchmal urplötzlich ein Gefühl von Fremdheit, als sie sich mitten in der Tarockrunde sieht. In ihrer Stammfamilie haben sie die Wohnung renoviert, ihr Zimmer ist jetzt Bügelzimmer und Krimskrams-Raum. Aber man rennt auch nicht wegen jeder Kleinigkeit davon: „Streitet euch zusammen!“

Ja – dann, was? „Glücklich, doch noch.“

Innerhalb der entdifferenzierten Zellmassen behalten einige Abschnitte ihre differenzierte Gestalt bei. Von diesen aus organisiert sich der Körperbauplan neu, so dass larvale Organe teilweise völlig abgebaut und ihre imaginalen Entsprechungen von Grund auf neu gebildet werden können.

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Neunzehnhundertsiebenundsiebzig

Ständig muss man den Brettern ausweichen, mit denen die Welt zu den Gleichaltrigen vernagelt ist. Margret sieht auf dem Weg mit der Schwiegermutter zur Schneideranprobe lustige braungebrannte Typen mit Tramperrucksäcken. Sie nimmt schweigend die Aussage hin: „Schrecklich nicht wahr, die haben sicher Läuse?!“ und denkt: Wohin die Reise wohl geht, Algarve oder Provence, Irland oder Korfu? Sie dreht sich sehnsüchtig nach ihnen um. Ein anderes Mal auf dem Heimweg – eine Waschmitteltonne und ein Paket Klorollen schleppend – treffe ich sie, ich bin jetzt bei einer Amnesty-International-Gruppe und trage Afrolook. Margret trägt einen schwarzen Samthaarreif und ihre Bluse hat ein Paisley-Muster.

Aber das macht schon nachdenklich, was bedeutet es denn? „Glücklich noch manchmal.“

Bei einigen geht in dieser Zeit der größte Teil des imaginalen Körpers aus knospenförmigen Einsenkungen tief im Innern, den Imaginalscheiben, neu hervor, während die entsprechenden larvalen Strukturen völlig verschwinden.

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Neunzehnhundertachtundsiebzig

Margret findet im Beruf Anerkennung und Herausforderung. Sie hört wieder Bert-Brecht-Platten, wenn sie allein ist, oder singt ekstatisch „Mamita mia“. Sie zitiert Gedichte, in denen es heißt, dass in allen Adern die Öde galoppiert. Sie erträgt die besitzergreifenden Blicke auf den Bauch, ob er sich schon rundet: „Na, jetzt würde es aber langsam Zeit?!“ und denkt, dass ihr Bauch ihr gehört.

Der Ehemann ist viel unterwegs. Wenn er heimkommt, ist er müde. Zusammen mit neuen Freunden verändert er sich und das Auto riecht nach fremder Frau. So eine billige Strumpfhose trägt sie auch nicht wie die, die da im Handschuhfach liegt. Den Gedanken nicht zu Ende denken.

Aber in der Bibliothek stundenlang sich in den Briefwechsel von Karl Jaspers und Hannah Arendt vertiefen, während eigentlich ein Hefezopf gebacken werden soll. Die Schwiegereltern kaufen einen Seidenteppich und rümpfen die Nase über ihre neuerdings hennafarbene Haartracht. Etwas beginnt sich vorzubereiten.

Und wie ist die Zwischenbilanz? „Glücklich auf Sparflamme“.

Die Zeitspanne der Metamorphose sowie das in der Metamorphose befindliche Insekt werden beim Seidenspinner auch „Chrysalis“ genannt. Bei diesen spinnt sich die Larve im letzten Stadium ihres Lebens als Larve in einen Kokon ein, dessen Fäden abgehaspelt als Seide genutzt werden.

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Neunzehnhundertneunundsiebzig

Margret und ich – wir sind jetzt vierundzwanzig. Da haben andere schon einen Baum gepflanzt, ein Haus gebaut und ein Kind geboren. Unerwartet für viele ist ihre Ehe zu Ende. Ohne Rosenkrieg und Dramatik. Jeder ist froh, dem allem grade noch entkommen zu sein und es tut fast gar nicht weh.

Die Schwiegermutter sagt: „Männer sind so“ und „Wahrscheinlich ist es nur ein Strohfeuer“: Stolz, Trotz, Entschlossenheit, unbändige Kraft. Margret erfährt Zuspruch aus der Stammfamilie („Dir steht die Welt offen“).

„Jetzt hat sie sich entpuppt“, sagt die Schwiegermutter. Wie recht sie doch hat. Margret sagt, als sie aus der viel zu engen Haut geschlüpft ist, war sie erstaunt, dass ihr darunter Flügel gewachsen sind.

Schlusswort? „Glücklich! Und Abflug!“

Version 3