Von Winfried Dittrich

Es ist mir eigentlich schon vor mir selbst peinlich. Nicht nur darüber zu sprechen, sondern überhaupt daran zu denken. Immer noch. Nach all den Jahren. Es will mir aber nicht aus dem Kopf gehen. Und gestern meinte mein Therapeut, ich solle das Ganze doch einmal zu Papier bringen. Es aufschreiben, mir von der Seele schreiben. Meinem Gedächtnis die Chance geben zu vergessen oder, wie ich selbst mittlerweile hoffe, es hinter mir lassen zu können. Zumal das, woran ich mich erinnere, überhaupt nicht real sein soll. Nie real gewesen sein soll.

Vor sieben Jahren, an einem Mittwoch im August, war ich auf dem Weg nach Hause. Wie nach jedem Bürotag hatte ich das Fahrrad am Hauptbahnhof abgestellt und fuhr mit der S5, von Gleis 6, weiter in Richtung Hagen. Nach der letzten Dortmunder Haltestelle wäre es der übernächste Halt gewesen, bei dem ich ausgestiegen wäre, Witten Hauptbahnhof. Doch dazu kam es an diesem Tag nicht. Dazu ist es seither nie wieder gekommen.

Weil der Akku meines Handys leer war, vertiefte ich mich in eine Geschichte auf meinem E-Book-Reader. Etwas zum Runterkommen, eine Ablenkung von meinem stressigen Job, wo ich Bedienungsanleitungen für Haushaltsgeräte schrieb und einen Chef im Nacken hatte, der versuchte, seine Mitarbeitenden mit dem Abklatsch kluger Sprüche bei der Arbeit zu halten.

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»Fakten, Fakten, … an die Leser denken – fokussiert euch mal wieder« Damit sprengte er regelmäßig wichtigen redaktionellen Austausch, wenn wir beispielsweise diskutierten, ob es besser Den Knopf drehen, Den Drehknopf drehen oder Den Drehknopf in Drehrichtung drehen heißen sollte.

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Die Geschichte, die ich da in der Bahn las, fesselte mich so sehr – es ging um eine Waschmaschine, mit der man, wenn man sich durch ihre Einfüllöffnung ins Innere zwängte, und vorher die Schleuderdrehzahl auf genau 1493 Umdrehungen pro Minute einstellte, in neue, parallele Welten reisen konnte. Mich nahm das so in Beschlag, dass ich meinen Blick nicht von dem Display abwenden konnte und nur die Zughalte mitzählte. Nummer eins: Dortmund -Barop, Nummer zwei: Dortmund -Kruckel, Nummer drei: Witten-Annen Nord. Bei Nummer vier hatte ich den Zug zu verlassen. Witten Hbf.

Die Augen weiterhin auf das Display gerichtet, stieg ich aus und lief wie ferngesteuert den Bahnsteig entlang. Erst nach hundert Metern nahm ich meinen Kopf wieder hoch, um dann überrascht festzustellen, dass ich am falschen Ort angekommen war: Hagen-Vorhalle.

»Scheiße«, sagte ich nur leise vor mich hin – aus Unaufmerksamkeit war ich zwei Stationen zu weit gefahren. Glücklicherweise kündigte sich die nächste Bahn in der Gegenrichtung bereits an und fuhr zwei Minuten später mit mir zusammen ab. Nun musste ich lediglich an der übernächsten Haltestelle aussteigen, um nach Hause zu kommen. Dass ich weiterlesen konnte, war ein kleines Trostpflaster.

Der erste Halt war Wetter an der Ruhr. Ich blickte kurz hoch, alles in Ordnung. Als ich beim nächsten Halt dann aus dem Zug trat, war ich gleichzeitig überrascht und verärgert, da ich wieder zu weit gefahren war und in Dortmund-Kruckel stand. Merkwürdig, denn ich hatte die Zughalte doch genau mitgezählt. Ich lief los und schloss zu einer älteren Frau auf, die ebenfalls ausgestiegen war.

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»Entschuldigen Sie, wissen Sie, ob die Bahn, mit der wir hier gerade angekommen sind, in Witten gehalten hat? Ich habe die Haltestelle verpasst.« Die Dame hob den Kopf und blickte mich skeptisch an.

»Sind Sie sicher, Sie haben die richtige Bahn erwischt?«, entgegnete sie und wandte sich von mir ab.

Ich drehte mich um und sprach einen Mann an, der ein Fahrrad schob und uns überholen wollte. »Entschuldigung, sind Sie nicht auch gerade aus der S5, die aus Hagen kam, ausgestiegen? Hat die in Witten gehalten?« Der Mann kniff die Augen zusammen, hielt inne, als ob er nachdenken würde, und schüttelte dann den Kopf.

»Nein, die Bahn hält in Vorhalle, in Wetter und dann hier. Und wenn Sie weiterfahren, dann noch in Barop und am Hauptbahnhof. Ist ‘ne kurze Linie, deshalb lassen sie sie auch so oft ausfallen. Sind Sie nicht von hier, oder?«

»Doch, ich bin von der Arbeit auf dem Weg nach Hause, nach Witten. Da lebe ich mit meiner Familie. Aber die Bahn hat da heute nicht gehalten.«

»Sorry, aber ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

»Von der Stadt Witten rede ich!«

»Witten? Habe ich noch nie gehört. Sind Sie sicher?«

»Ja, absolut!«

»Sie wollen mich auf den Arm nehmen, oder? Ich fahre seit zwanzig Jahren täglich mit dieser Linie hier!«, sagte er in bestimmtem Ton. »Witzbold …«

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Er schob sein Rad weiter und ließ mich zurück. Ich wartete eine halbe Stunde, um wieder die nächste S5 in Richtung Hagen zu nehmen. An meiner Geschichte mit den Parallelwelten hatte ich spontan kein Interesse mehr, und die Reaktionen der Menschen verstand ich nicht. Auf dem Bahnsteig suchte ich den Schaukasten mit den Fahr- und Linienplänen, fand aber nur eine eingeschlagene Scheibe und verwitterte Papierfetzen vor, bevor mich die nächste Bahn wieder aufnahm. Diesmal blickte ich aus dem Fenster und sah auf dem langen Stück zwischen Dortmund-Kruckel und Wetter nur Wiesen, Wald und die Ruhr, aber keine Stadt namens Witten!

Nachdem ich die Strecke zwischen Wetter und Dortmund noch zwei weitere Male mit dem Regionalzug abgefahren war – ich hatte die Hoffnung, die S-Bahn sei vielleicht nur eine Umleitung gefahren – und Witten auch entlang dieser Strecke nicht auszumachen war, ich an keinem der beiden Hauptbahnhöfe einen Bus in die richtige Richtung fand und auch bei jeder Vorsprache an heruntergelassenen Taxifenstern zurückgewiesen wurde, beschloss ich, von Dortmund aus mit meinem Fahrrad nach Hause zu fahren. Als ich bei der Radstation ankam, konnte ich jedoch mein Fahrrad nicht finden. Schlüssel und Zugangskarte waren auch weg.

»Taschendiebe«, meinte der Radstationsmitarbeiter und zuckte nur mit den Schultern.

Mir blieb nichts anderes übrig, als zu meiner Mutter zu fahren. Einer der Vorteile von Witten ist, dass man, egal mit welchem Verkehrsmittel man unterwegs ist, relativ schnell Dortmund oder Bochum erreichen kann. Ruhrgebiet, halt. Und von Dortmund aus ist man schnell in Bochum, wo mein Elternhaus steht. Ich klingelte, weil ich den Hausschlüssel nicht immer mit mir herumtrage – ich verliere sowas des Öfteren …

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»Was machst du denn hier, Oliver?« Meine Mutter blickte mich überrascht an. »Hast du Urlaub? Wie bist du hergekommen?«

»Ich komme gerade von der Arbeit, Mama. Und ich muss mal zu Hause anrufen. Andrea und die Kinder warten bestimmt schon mit dem Abendbrot. Wie spät ist es eigentlich?«

 »Wen willst du anrufen?«

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Kein Anschluss unter dieser Nummer … Diese Ansage hörte ich an diesem Abend bestimmt fünfzigmal. Weder meine Familie, noch Bekannte, Freunde oder irgendwer in Witten waren erreichbar. Nicht auf dem Festnetz, jedenfalls. Mobil erreichte ich einige Menschen, aber die sagten mir dann, dass ich mich wohl verwählt habe.
Schließlich gab ich auf, als meine Mutter mir ein Abendbrot machte.

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»Oliver, geht es dir nicht gut? Welche Familie willst du denn erreichen? Und was hat das mit dieser ominösen Stadt Witten auf sich? Du wohnst doch in Bielefeld!«

»Bielefeld? Mama, geht es dir nicht gut? Ich bin jetzt gerade nicht zu Scherzen aufgelegt.«

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Ich weiß nicht mehr genau, was alles meine Mutter und ich an diesem Abend besprachen. Jedenfalls hielten wir uns gegenseitig mindestens für desorientiert. Meine Mutter beharrte darauf, noch nie etwas von Witten gehört zu haben. Deshalb erzählte ich ihr von meinem Wohnort, von einer eigentlich ziemlich unscheinbaren und zum Teil heruntergekommenen Stadt, die außerhalb ihrer Grenzen für Satansmorde, für die Entdeckung der Steinkohle durch einen Schweinehirten im Muttental und für die komplizierteste Fahrradkreuzung bekannt geworden war, mit der es die Stadt sogar zweimal ins Fernsehen geschafft hatte. Aber meine Mutter blieb hart in ihrem Leugnen. Als mir nichts Weiteres einfiel, was ich noch hätte sagen können, wollte ich es ihr beweisen, dass ich nicht in Ostwestfalen, sondern in der Stadt mit dem Postleitzahlenbereich von 58452 bis 58456 wohnte.

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»Hier, mein Personalausweis. Auf der Rückseite steht meine Adresse. Guck selbst nach, Mama!« Die kleine Karte ließ ich rotierend, wie ein Ass, das ich aus dem Ärmel gezogen hatte, zu ihr herüberfliegen.

»Da steht Kavalleriestraße 10, Bielefeld, Oliver!«

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Der Schock saß tief. Er sitzt noch tief. Und bis heute kann ich es nicht verkraften, dass ich meine Familie in Witten nicht wiedersehen kann. Andrea, meine Frau, Berta, meine ältere, Carlotta, meine jüngere Tochter, und Django, den Zwerghamster, den ich eigentlich nie im Haus haben wollte. Sie sind einfach verschwunden. Mit allem Drum und Dran. Alle anderen Menschen, die ich in Witten kannte, auch. Und zwischen Dortmund und Wetter, ich bin mehrfach dort gewesen, befindet sich jetzt ein Naturschutzgebiet.

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In Bielefeld habe ich eine Wohnung, lebe allein und stehe, wenn ich den Unterlagen glaube, die ich dort gefunden habe, seit 14 Jahren in einem festen Arbeitsverhältnis bei einem Weißwaren-Hersteller. Seit sieben Jahren gehe ich täglich dorthin und arbeite als Ingenieur in der Qualitätssicherung. Ich führe Dauertests an Waschmaschinen durch, arbeite in weitläufigen Hallen, in denen sich Maschine an Maschine reiht, hunderte Exemplare die niemals ausfallen, weil meine Kolleg:innen in Forschung, Entwicklung und Produktion es echt draufhaben.

Und manchmal, wenn ich mal eine kleine Pause brauche, setze ich mich vor eine Waschmaschine und beobachte, wie sich die Trommel hinter dem runden Glas linksherum und dann rechtsherum dreht. Ich denke dann nach, über mein Leben. Das in Witten, bei meiner Familie, meiner Frau und meinen Kindern. Selbst den Hamster vermisse ich.

Der eine Kollege, der schon ein halbes Jahrhundert dort in Bielefeld arbeitet und mit dem ich mich ungewöhnlich gut verstehe, kommt ab und zu vorbei in meinen Pausen und warnt mich immer, dass ich nicht zu lange in diese Bullaugen hineingucken sollte.

 

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