Von Christoph Klaus

Ich heiße Johannes Friedensreich Bensenheimer und ich unterschreibe immer mit meinem vollen Namen. Ich bin nämlich hier der Chef. Ach, einer von denen, werden Sie jetzt denken, der seiner fußvolkstümlichen Berufsbezeichnung gerecht wird, indem er seine lederne Sitzgelegenheit mit seinen rückwärtigen Abgasen vernebelt, während er die Intelligenz derjenigen Köpfe verachtet, über die hinweg er seine Entscheidungen zu treffen pflegt. Um den austreibenden Neid gleich in seinen Keim zurückzuersticken: Mir wurde nichts geschenkt, auch ich musste mich ordnungsgemäß »nach oben schlafen«. Gut, in meinem Fall bedeutet das: Man macht ein Nickerchen im Büro und beim Erwachen, zack, ist man befördert worden. Egal. Immerhin geschah dies, während man nachweislich keinen Fehler gemacht hat.

Die meisten glauben ohnehin, die Existenzberechtigung eines Chefs erschöpfe sich darin – und damit auch sehr schnell –, Fifty-Fifty-Entscheidungen zu treffen, die im Falle des Erfolges eine hohe, im gegenteiligen eine nicht ganz so hohe Bonuszahlung nach sich ziehen. Weit gefehlt! Als Geschäftsführer muss man seinen guten Namen hergeben, um darauf den Ruf der Firma zu gründen. Das Signum des Chefs ist mit Gold aufzuwiegen; wer sich dessen zu bemächtigen weiß, besitzt die Macht über Wohl und Wehe des Unternehmens. Diese Macht vor Missbrauch zu schützen, das ist die Aufgabe desjenigen, in dessen Hände sie vertrauensvoll gelegt worden ist. Deshalb darf man als oberster Chef auch nur Dokumente unterschreiben, die an vertrauenswürdige Klientel geht, auf keinen Fall Autogrammkarten und gleich gar keine blauen Briefe. Sie mögen das für Verfolgungswahn halten, aber glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche. Es ist einige Jahrzehnte her – ich stand am Anfang meiner beruflichen Karriere –, als ich diesen Fall miterleben durfte, der mein Handeln nachhaltig geprägt hat:

Der Sekretärin meines damaligen Vorgesetzten – Hendersen hieß der – war es gelungen, sich auf perfide Weise dessen Unterschrift zu bemächtigen. Sie hatte ihm wie gewöhnlich die Dokumentenmappe mit den zu signierenden Schriftstücken gebracht, eines aber mit einem zusätzlichen leeren Blatt unterlegt. Auf dieses hatte sich die Unterschrift durchgedrückt und, mit der altbekannten Bleistiftmethode sichtbar gemacht, als Vorlage für entsprechende Fälschungsübungen gedient. Als dann irgendwann ein signifikanter Geldbetrag auf dem Firmenkonto und Hendersen ein Beweis für seine Unschuld fehlte, waren seine Tage als Geschäftsführer gezählt.

Sie werden jetzt sagen, dass es in der heutigen durchtechnisierten Zeit bessere und einfachere Methoden gibt, derartige illegale Transaktionen zu initiieren. Mir ist bewusst, dass ich als Angehöriger der Generation »60+« von der Generation »iPhone+« gern als rückständig belächelt werde, aber ich kann Ihnen versichern: Ich bin, was die moderne Technik betrifft, nicht völlig unbeleckt und mir deren Gefahren durchaus bewusst. Deshalb notiere ich die PIN auf meiner Bankkarte immer nur rückwärts und mein Universalpasswort lautet »boss«, extra mit einem kleinen »b« am Anfang, um es schwerer zu machen. Das knackt niemand, Sie können es ja mal versuchen. Aber ich schweife ab. Was ich damit sagen will: Mit dieser Art Risiken ist heutzutage jeder vertraut und trifft entsprechende Vorkehrungen. Neben Passwörtern, Virenscannern und Firewalls zum Schutz der Rechentechnik verfügen in unserem Unternehmen sogar die Kopiergeräte über einen personalisierten Nutzerzugang und einen Speicher für alle kopierten Vorlagen, sodass niemand unerkannt Dokumente duplizieren kann. Gerade vor diesem Hintergrund gehen die wirklichen Gefahren von deren althergebrachten Quellen aus, die niemand mehr auf dem Schirm hat, außer mir.

Es ist jetzt 10:55 Uhr. Gleich wird Frau Müller mit der zu unterschreibenden Korrespondenz für den heutigen Tag erscheinen. Da kann ich Ihnen gleich einmal das korrekte Vorgehen demonstrieren. Zumindest im Prinzip, denn Frau Müller ist nicht nur eine langjährige verdienstvolle Mitarbeiterin, sie weiß um meine Wachsamkeit und würde jeden Versuch scheuen, mich mit billigen Tricks hinters Licht zu führen. Und da kommt sie auch schon.

»Guten Tag, Herr Direktor«, sagt sie und händigt mir den Ordner mit der Ausgangspost zum Unterzeichnen sowie einen Kugelschreiber aus.

»Guten Tag, Frau Müller, danke«, nehme ich das Arbeitsmaterial entgegen und beginne mit dem Abspulen meines Routineprogramms.

Zuerst die Qualität des gereichten Schreibgerätes überprüfen. Sollte dieses am Ende seiner Lebensdauer angekommen sein und einen entsprechenden Krafteinsatz erfordern, um ein Schriftbild zu generieren, begründet das zumindest einen Anfangsverdacht dafür, dass damit ein Durchdrücken auf die Unterlage beabsichtigt wird. Dieser Test ist unverfänglich, da man vor dem scharfen Signieren auf dem wertvollen Originaldokument ohnehin dazu angehalten ist, einen solchen vorzunehmen. Dazu bedient man sich am besten der tischformatigen Schreibunterlage, deren aufgedruckte Werbung für das eigene Unternehmen die Erinnerung daran auffrischt, wer unter einer eventuellen Nachlässigkeit bei der anstehenden Arbeitsaufgabe zu leiden hätte. Dabei unbedingt beachten: Nur Kringel und Strichmännchen, keine Proben der eigenen Handschrift!

Oh! Der Kugelschreiber gibt tatsächlich nicht mehr viel her, ich muss ziemlich aufdrücken. Jetzt ist Vorsicht geboten! Aber nichts anmerken lassen.

Ich öffne den Ordner, der heute nur einen Brief enthält. Jetzt muss ich prüfen, ob da wirklich noch ein Blatt darunter liegt, aber so, dass Frau Müller es nicht bemerkt. 

Es klopft an der Tür und ehe ich „Herein“ sagen kann, wird diese schon geöffnet. Das kann nur Schmidt sein, Abteilungsleiter vom Einkauf, der Einzige, der sich das traut. Frau Müller wendet sich unvermittelt um. Das ist die Gelegenheit. Vorsichtig taste ich mit meinem in langem Berufsleben sensibilisierten Daumen den unteren Rand des Blattes ab. Gut, es ist nur eines… Halt! Doch nicht. Da ist ein zweites Blatt, aber geschickt getarnt! Es ist exakt unter dem anderen ausgerichtet und haftet diesem an. Auf den ersten Blick und Griff sieht es aus und fühlt sich an, als wäre es nur eines. Aber es sind zwei. Jetzt ist Alarm!

Die Müller, dieses Miststück! Ich habe immer gewusst, dass man ihr nicht trauen kann!

»Herr Direktor, die Kollegin Hartlapp von der…«, richtet Schmidt das Wort an mich, das ich ihm sofort abschneide, um nicht außer Konzeptes zu geraten.

»Einen Moment, bitte.«

Wie weiter vorgehen? Mit der Schreibkrücke, die die Urkundenfälscherin mitgebracht hat, darf ich auf keinen Fall unterzeichnen; da hätte sie genau das, was sie braucht. Für solche Situationen empfiehlt es sich, einen blauen Fineliner vorzuhalten. Der drückt nicht durch, aber es fällt auch nicht sofort auf, dass es sich nicht um einen Kugelschreiber handelt. Zunächst aber mache ich noch einen weiteren scheinbaren Test mit dem unbrauchbaren Utensil, murmele etwas Unverständliches wie »Schreibt nicht« und suche dann in meinem Schreibtisch nach der genannten Alternative. Ich ziehe den oberen Schieber auf, da klingelt das Telefon. Es ist Warbach von der IT:

»Herr Direktor, hat sich der Servicetechniker…?«

»Bleiben Sie bitte in der Leitung, Herr Warbach«, würge ich ihn ab. Erstens habe ich gerade Wichtigeres zu tun, zweitens hätte ohnehin Schmidt Vorrang.

Dessen scheint sich jener gerade bewusst geworden zu sein, denn er beendet das Getuschel mit Frau Müller und wird nachdrücklich:

»Herr Direktor, es ist wichtig…«

»Bin gleich für Sie da, Herr Schmidt.«

Wo ist bloß dieser verflixte Fineliner? Gestern hatte ich ihn doch noch in der Hand. Auch wenn es in mir brodelt, jetzt nach außen Ruhe vorspielen, um die Müller nicht misstrauisch zu machen. Während meine rechte Hand wie in Gedanken die Sammlung diverser mehr oder weniger funktionierender Schreibgeräte im aufgezogenen Schieber durchpflügt, um das eine rettende zu finden, greife ich mit der linken zum Telefonhörer, der noch immer an seiner Schnur um meinen Hals hängt. Mit umständlichem Griff drücke ich ihn mir ans Ohr und sage zu Warbach:

»Herr Warbach, worum geht es?«

Warbach antwortet etwas, aber Schmidt unterbricht mich schon wieder:

»Herr Direktor, ich war aber zuerst…«

Endlich habe ich meinen blauen Fineliner gefunden. Die Müller guckt auch gerade nicht. Ich unterschreibe schnell, schließe den Ordner und gebe ihn ihr zurück. Sie zieht damit ab. Ich stelle mir vor, wie sie heute Abend den verzweifelten wie aussichtslosen Versuch anstrengen wird, auf dem leeren Blatt meine Unterschrift wiederherzustellen. In meinem Inneren breitet sich Entspannung aus. Nachdem ich diese herausfordernde Situation souverän bewältigt habe, kann ich mich befreit den Anliegen des mir unterstellten Personals widmen.

»Nun, Herr Schmidt, was gibt es?«

»Kollegin Hartlapp von der Büromaterialausgabe hat sich heute Morgen krankgemeldet. Die Leute warten. Auch Frau Müller hat sich schon bei mir beschwert, dass sie keinen neuen Kugelschreiber bekommen hat. Was können wir da machen?«

»Schicken Sie die Praktikantin als Vertretung. Sie hat sich bestens eingearbeitet. Sie schafft das.«

Schmidt nickt zufrieden und geht.

»So, Herr Warbach, jetzt habe ich Zeit für Sie«, spreche ich ins Telefon, unsicher, ob die Verbindung noch steht.

»Herr Direktor, hat sich der Servicetechniker bei Ihnen gemeldet?«

»Welcher Servicetechniker?«

»Der den Drucker reparieren soll. Da gibt es ein Problem mit dem Papiereinzug. Die Blätter haften zusammen und der Drucker zieht immer zwei gleichzeitig ein.«

»Danke für die Information. Wenn er kommt, weiß ich Bescheid.«

Ich lege auf und atme durch. In Gedanken bitte ich Frau Müller um Verzeihung für die unberechtigte Verdächtigung.

 

Jetzt sehen Sie, welche Qualitäten man als Chef mitbringen muss: Kühlen Kopf bewahren, auch wenn es mal unübersichtlich wird. Dann lassen sich selbst die schwierigsten Situationen bewältigen und alle Fragen können geklärt werden. Das heißt, bis auf eine: Was habe ich da eigentlich gerade unterschrieben?

 

Eine Woche später wurde mir fristlos gekündigt.

 

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