Von Helmut Blepp

Es war mir schon lange klar, dass mein Leben den Bach runterging. Ich war allein, hatte keinen Spaß mehr an den Dingen, mit denen andere Leute sich beschäftigen, machte lustlos meine Arbeit im Büro und schlief nachts tief, weil es nichts gab, an das ich denken mochte in der Dunkelheit. 

Ich aß, um nicht zu verhungern, trank, um nicht zu verdursten und las die Zeitung, um nicht zu verblöden, aber ich fühlte nichts dabei. Mein Leben war zur Routine geworden, die, ich weiß nicht mehr wann, begonnen hatte und irgendwann in Belanglosigkeit enden würde, wenn meine Zeit gekommen war. 

Auch heute noch könnte ich schwerlich erklären, weshalb ich damals die halbherzig ausgesprochene Einladung eines Geschäftspartners zu seiner Geburtstagsfeier annahm. Der Tag rückte schneller heran, als mir lieb war, und ich wusste, es konnte nur schrecklich werden. Aber ich wollte nicht kneifen. Also kaufte ich eine Flasche Whisky für den Gastgeber und machte mich auf den Weg. Die Begrüßung war höflich distanziert, der Glückwunsch mit Händedruck schnell ausgesprochen. Mein Geschenk wurde achtlos auf einem Beistelltisch in der Diele abgestellt. Ein kurzes „Bis später dann“, und der Jubilar verschwand in den Weiten des Bungalows.

Ich schlenderte durch das große Wohnzimmer, dessen Terrassentüren weit offenstanden, in den weitläufigen Garten, nahm einen Prosecco von einem Tablett und sah mich um. Die Gäste standen in Grüppchen. Es wurde offenbar viel getrunken und viel gelacht. Wie zu erwarten gewesen war, kannte ich niemanden. Verunsichert trat ich in den Schatten einer Hecke, um als einziger Gast ohne Gesprächspartner keine Aufmerksamkeit zu erregen, und überlegte, ob ich mich gleich wieder aus dem Staub machen sollte. Unentschlossen nippte an meinem Glas. Erst als er direkt vor mir stand, wurde ich eines Mannes gewahr, der mich erstaunt ansah. 

„Bist du es“, rief er aus. „Bist du es wirklich?“ 

War ich es?

„Mensch, alter Junge, kennst du mich nicht mehr?“

Er schien enttäuscht. Ich schaute ratlos in sein ausgemergeltes Gesicht und sagte: „Natürlich kenne ich dich.“ 

Natürlich kannte ich ihn nicht, war mir sicher, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben.

„Wie könnte ich dich vergessen haben“, sprach ich weiter, ohne mir selbst klar darüber zu sein, weshalb ich das tat.

Sein Gesicht verdüsterte sich.

„So natürlich ist das nicht. Die anderen haben mich vergessen. Ich habe schon ewig nichts mehr von ihnen gehört. Ich weiß nicht einmal, ob sie überhaupt noch leben. Ist das nicht schlimm?“ 

„Gräm dich nicht“, tröstete ich ihn. Ich fand irgendwie Gefallen an der Situation und setzte nach: „Sie sind es nicht wert, dass man um sie trauert.“ 

„Recht hast du! Ich werde sie einfach vergessen“, und lächelnd stellte er fest: „Jetzt habe ich ja dich wiedergefunden.“ 

Doch seine Stimmung wechselte abrupt, und vorwurfsvoll fuhr er fort: „Aber auch du hast mir nicht mehr geschrieben. Ich habe immer auf eine Nachricht gewartet, aber kein einziges Mal hast du dich gemeldet. Warum nur?“

Ich versuchte, seinem anklagenden Blick auszuweichen, aber es gelang mir nicht. 

„Es war eben …“ Ich suchte nach einer Rechtfertigung. „Es war einfach so, dass ich glaubte, du seiest tot.“ 

Seine Kinnlade klappte herunter. 

„Das war ich auch“, nickte er eifrig. „Ich hätte nie gedacht, dass sich das herumspricht. Tatsächlich habe ich viel gelitten, bevor es dann mit mir zu Ende ging. Aber jetzt bin ich ja wieder auf dem Damm.“ 

„Und das ist wohl die Hauptsache“, bestätigte ich ihm. 

Er war offenbar verrückt. Mir schien nun Vorsicht geboten. Ich wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen. Es war ein stämmiger Bursche. Am besten war es wohl, auf ihn einzugehen. So fragte ich ihn: „Und woran bist du denn gestorben?“ 

„An Einsamkeit“, bekannte er mit Grabesstimme, „die schrecklichste aller Todesursachen. Kannst du dir vorstellen, was es heißt, an Einsamkeit zu sterben?“ 

„Nein, das kann ich wirklich nicht“, log ich. „Aber es tut mir von Herzen leid, dass esdDir so schlecht ergangen ist.

Die Situation hatte den Reiz verloren, den sie anfangs für mich besessen hatte. Der Kerl war unheimlich. Leises Unbehagen beschlich mich.  

Der Fremde sah mich eindringlich an, der Blick unstet und wachsam, die Lippen zusammengepresst. Was ging wohl hinter dieser gefurchten Stirn vor? Was erwartete er von mir? 

„Mann, was guckst du denn so belämmert! Es scheint mir nicht gerade, als seiest du übermäßig froh, dass wir uns getroffen haben.“ 

„Wie kannst du nur so etwas sagen“, tat ich empört. „Ich habe dich doch auch vermisst.“ 

Das besänftigte ihn. 

Ich überlegte, wie ich ihn loswerden könnte, ohne ihn gegen mich aufzubringen. Nach wie vor empfand ich meine Lage als bedenklich und spürte, dass ich immer nervöser wurde. 

„Mein Gott, was für ein Zufall“, rief da plötzlich eine Stimme hinter mir. 

Ich drehte mich um und sah einen Unbekannten, der freudestrahlend auf uns zukam. Noch ein Verrückter! 

„Ich habe doch ein Glück“, sprach er weiter. „Erst sieht man jahrelang keinen mehr und jetzt treffe ich gleich euch beide.“ 

Mein erster `Freund´ konnte, wie es schien, mit dem Neuankömmling genauso wenig anfangen wie ich. 

„Ihr müsstet euch mal sehen können! Steht da wie die Ölgötzen! Ich weiß ja nicht, aber unser Wiedersehen hatte ich mir anders vorgestellt.“ 

Mir fiel keine passende Antwort ein. Aus diesem Grund machte ich spontan den Vorschlag, gemeinsam die Hausbar unseres Gastgebers zu suchen, um mit etwas Stärkerem anzustoßen. Das ist immer noch besser, dachte ich mir, als weiter mit den zwei Irren im dämmrigen Garten zu stehen. 

„Ah, endlich wieder der Alte“, rief unser neuer Freund aus. „So habe ich es gern! Aber wisst ihr was? Hier ist doch sowieso tot Hose. Lasst uns unser Wiedersehen in einer ordentlichen Kneipe begießen!“ 

Er legte seine Arme um unsere Schultern, und wir machten uns widerspruchslos auf den Weg. Schon zwei Straßen weiter fanden wir ein Lokal, das den Zuspruch meiner Begleiter fand. Der Gastraum war gemütlich, holzgetäfelt, mit Geweihen an der Wand.  

Wir tranken ein Glas Wein. Wir tranken zwei Gläser, dann jeder ein drittes, erzählten uns dabei wie alte Freunde, was wir die ganzen Jahre über gemacht hatten. Und während wir sprachen und lachten, spürte ich, wie in mein Inneres ein wohliges Gefühl zurückkehrte. Ich bezeichnete die beiden Fremden immer wieder als Freunde und hatte dabei nicht mehr das Gefühl, zu heucheln. Als die alte Standuhr Sperrstunde meldete, brachen wir ein wenig unwillig auf. Am nächsten Tag wollten wir uns wieder treffen. 

Etwas beschwipst und mit gelöster Brust ging ich durch leichten Nieselregen nach Hause. Einmal hüpfte ich sogar übermütig auf einem Bein und belächelte mich selbst dabei. Ich freute mich auf morgen.