Von Ingo Pietsch

 

Ich stand vor dem Riesenrad und starrte in den blauen, friedlichen Himmel.
Nur zu gerne wäre ich damit eine Runde gefahren, einfach die Welt von oben zu bestaunen und ein wenig zu entspannen.
Doch dafür hatte ich keine Zeit.
Wenn alles gut ging, würde die Welt hoffentlich so weiterexistieren, wie sie es bisher getan hatte.
Nicht perfekt, aber wir Menschen besannen uns ja so langsam, es besser zu machen.
Ich hatte vier Stunden Zeit, bevor das Ultimatum ablief.
Also holte ich noch einmal tief Luft, stieg dann in den alten Lada, der mit zur Verfügung gestellt worden war und machte mich auf den Weg.
Es war nur eine halbe Stunde bis zum Atomkraftwerk Tschernobyl und die würde ich damit verbringen, meine Lieblingsmusik zu hören und über mein Leben nachzudenken.

Während ich über die mit Schlaglöchern übersäte Straße holperte, kam mir wieder in den Sinn, wie ich zum dem geworden war, der ich jetzt bin.
Ich fragte mich natürlich, warum das Schicksal gerade mich ausgewählt hatte.
Es war 2011.
Ich war mit einem Kollegen der Fahrer des bis dahin letzten CASTOR-Transportes zum Endlager Gorleben.
Wir wurden von einer Polizeieskorte umringt.
Zwei Hubschrauber kreisten über uns. Einer von der Polizei und von einem Fernsehsender, der Exklusiv-Rechte hatte.
Bei dem ganzen Aufgebot kamen wir uns wie VIPs vor.
Das Zeug, das wir transportierten, war nur Müll, kein waffenfähiges Material.
Trotzdem wusste man nie, was alles passieren konnte.
Ein paar Mal hatten uns Demonstranten in schicken Strahlenschutzanzügen, Gasmasken, Schildern und Megaphonen den Weg versperrt, aber die Sicherheitskräfte hatten sie immer friedlich dazu bringen können, ihre Sperren aufzulösen.
Mehrfach mussten Trecker abgeschleppt werden.
Ich verstand die Leute nur zu gut. Es war ja auch ein wirklich gefährliches Zeug, was wir da durch die Gegend schipperten.
Man sah, roch und fühlte es nicht und trotzdem war es absolut tödlich.
Ich hatte auch so meine Bedenken, aber ich vertraute dem Sicherheitskonzept und die Bezahlung war außergewöhnlich hoch.
Ich hatte keine Familie und machte mir über solche Sachen, wie Gesundheitsgefährdung keinen Kopf.
Der Geigerzähler auf dem Armaturenbrett zeigte keine ungewöhnlichen Werte und auch sonst war das letzte Stück des Weges sehr übersichtlich und unspektakulär.
Es gab da noch ein kleines Waldstück, aber das würden wir schnell passiert haben.
Eine Oberlandleitung führte über die Straße und einige Vögel saßen auf den dicken Leitungen.
Ich nahm ein wenig Geschwindigkeit herunter, da wir in eine kleine Senke fuhren.
Und dann geschah genau dass, was niemand haben wollte.
Es gab einen Ruck und alles in meinem Blickwinkel kippte zur Seite.
Ich schlug hart mit dem Kopf auf das Lenkrad und hörte meinen Kollegen meinen Namen rufen. Dann wurde alles schwarz um mich herum …

Als ich die Augen wieder aufschlug, lag ich in einem Spezialzimmer mit Kunststoffvorhängen und Beobachtungsfenstern.
Ich versuchte etwas zu sagen, aber die Beatmungshilfe in meinem Mund hinderte mich daran.
Mein Körper fühlte sich schwer an und ich konnte mich nicht bewegen.
Mehrere technische Geräte piepten um mich herum.
Anscheinend hatte man bemerkt, dass ich aufgewacht war, denn eine Person in einem Strahlenschutzanzug und Geigerzähler betrat mein abgeschottetes Zimmer.
Das Gerät gab nur leise knackende Geräusche von sich, so dass ich annahm, dass hier im Raum nichts oder nur wenig verstrahlt war.
„Ich bin Hauptfeldwebel Konstantin. Können Sie sich noch an etwas erinnern?“ Der Mann hatte eine tiefe Stimme, mit sehr bestimmtem Ton.
Ich nickte nur.
Konstantin blickte zum Fenster und eine weitere Person kam in den Raum, um mir den Schlauch zu entfernen.
Es brannte in einem meiner Kehle. Ich begann zu würgen, aber mein Magen war leer.
Schließlich krächzte ich: „Ich denke, der Lastwagen kippte zur Seite und ich wurde bewusstlos.“
„Eine Gruppe Aktivisten hatte den LKW mit einem Gabelstapler gerammt und außerdem war ein Hochspannungsmast auf Grund des Unfalls eingeknickt und hatte ihren Transporter unter sich begraben.“
Ich musste ihn fragend angesehen haben, denn er sagte weiter: „Der CASTOR-Behälter wurde dabei schwer beschädigt und Strahlung war ausgetreten. Tödliche Strahlung. Alles im Umkreis von einem Kilometer war dem Tode geweiht.“
In meinem Gehirn ratterte es.
„Wenn ich direkt an der Quelle war, warum lebe ich dann noch? Und was ist mit den anderen?“
Konstantin fasste sich mit seinem Handschuh an den Helm, dort wo das Kinn war. „Den anderen geht es gut. Ich bin kein Biochemiker, aber was mit Ihnen passiert ist, kann niemand erklären.“
„Ist an mir noch alles dran?“, wollte ich wissen.
Der Hauptfeldwebel lachte: „Mehr sogar noch.“
Er sprach in Rätseln und kam näher auf mich zu. „Irgendwie hat sie der Hochspannungsstrom und die Radioaktivität verändert. Ihre Nieren sind in der Lage, Strahlung aus der Umgebung in sich aufzunehmen und zu neutralisieren. Als wir zur Unglücksstelle kamen, war alles hochgradig kontaminiert. Aber nach und nach wurde es weniger und war nur noch bei Ihnen nachzumessen, bis es schließlich verschwand.“
Ich wusste nicht, ob ich weinen oder mich freuen sollte.
„Wir würden gerne mit Ihnen einige Experimente durchführen, ob es dauerhaft sein könnte. Sie werden natürlich entsprechend entlohnt.“

Langsam kam der überzementierte Reaktor in Sicht.
Die Hülle war saniert worden, da der Mantel brüchig geworden war.
Jetzt, 2026 spielte das keine Rolle mehr.
Russland befand sich weiterhin im Krieg mit der Ukraine und in zwischen auch mit Westeuropa.
Wenn auch relativ friedlich. Es gab keine Grenzüberschreitungen, aber alle Seiten lagen unter großer Anspannung. Wenn ein falscher Knopf gedrückt wurde, dann war es aus.
Russland hatte ein Ultimatum gesetzt, das jetzt auslief: Abzug aller militärischen Truppen aus der Ukraine und aus Polen. Die beiden Länder würden friedlich vereinnahmt werden.
Sollte die EU dem nicht zustimmen, wolle man Tschernobyl beschießen.
Damit schadete sich die russische Föderation möglicherweise selbst, aber die Belagerung dauerte schon zu lange an.

Wie sich herausstellte, hatte ich nach dem Unfall tatsächlich über Nacht Superkräfte bekommen.
Ich saugte alle radioaktiven Energien in meiner Umgebung auf, speicherte sie und löste sie dann auf.
Je nach Menge dauerte es entsprechend lange.
Uhren hörten in meiner Umgebung auf zu leuchten und Röntgenapparate funktionierten einfach nicht mehr.
Ich entsorgte radioaktiven Müll und zur Krönung machte ich einen Brennstab unscharf.
Die hohe Strahlung setzte mir allerdings so zu, dass ich zwei Wochen im Bett und in Quarantäne bleiben musste, damit ich niemand anderen verstrahlte.
Außerdem bekam ich Kreislaufprobleme.
Aber es war möglich.
Das Wichtigste, was wir herausfanden, war also, dass mir Grenzen gesetzt waren.
Und ich befand mich permanent in der Defensive.
Ich konnte nur Radioaktivität neutralisieren, mehr nicht.

Man hatte an mein Gewissen appelliert – an die Rettung der Menschheit, damit ich diesen Job annahm.
Irgendwann hatte ich zugestimmt, schließlich ging es auch um meine Heimat, meine Landsleute, Freunde und Bekannte.
Obwohl ich mir das mehr einredete als glaubte.
Ich stellte den Lada ab und begab  mich zu einer verschlossen Tür, zu der ich einen Schlüssel hatte.
Was brauchte es ein hohes Sicherheitsniveau, wenn man hier nicht lange überlebte.
Die Pflanzen und Tiere in der näheren Umgebung lebten auch noch, hatten sich irgendwie angepasst.
Kaum hatte ich das Gebäude betreten, begannen schon unerträgliche Kopfschmerzen, die mehr und mehr zunahmen, je weiter ich zum Kern vordrang.
Alles war hier heruntergekommen und verrostet.
Auf einen Geigerzähler hatte ich verzichtet, ich würde ja ohnehin sterben.
Wenn alles gut ging, wäre Russlands Druckmittel dahin und man könnte sich vielleicht friedlich einigen.
So stellte ich mir es jedenfalls vor.
Weit war es jetzt mehr, hoffte ich. Lange würde ich nicht mehr durchhalten. Meine Beine versagten mir langsam den Dienst und das Atmen viel mir zunehmend schwerer.
Dann erreichte ich die Kühlkammer mit dem brackigen Wasser.
Sofort strömte die Energie auf mich ein und ich hatte das Gefühl ich könne sehen, wie ich sie aufsaugte.
Eigentlich war es wunderschön. Anderseits waren die Schmerzen unerträglich.
Ich konnte in einem spiegelnden Stück Metall sehen, wie ich von innen heraus zu leuchten begann.
Trümmerstücke fielen von der Decke, verfehlten mich nur knapp, Metall begann sich kreischend zu verbiegen.
Plötzlich ging eine gewaltige Druckwelle von mir aus und fegte alles um mich herum zur Seite.
Glühendheiße Blitze umgaben mich, schlugen in der Umgebung ein und brachten alles zum Schmelzen.
Eine leuchtende Aura umgab mich.
Die gewaltige Energie hatte mich verwandelt.
Ich konnte die Kraft in mir jetzt lenken.
Ich konzentrierte mich und verwandelte die Luftmoleküle. Dann hob ich ab und durchbrach die Betondecke.
Schwebend verharrte ich über dem Atomkraftwerk, das nun ungefährlich war.
Ich orientierte mich. Moskau lag in Richtung Osten. Dort würde ich zuerst hingehen, um diesen Krieg zu beenden.
Und dann würde ich den Frieden auf die ganze Welt bringen. Mit all meiner Macht …

 

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