Von Matthias Herrmann
Andreas und ich hatten uns zum Sternenkrieg verabredet. Wir kannten uns von der Schule, besuchten dieselbe Klasse. Vor Jahren war ich einmal auf seinem Kinderfaschingsfest gewesen, aber es war das erste Mal, dass wir uns zum Spielen an einem Nachmittag trafen. Noch dazu einem Sonntag. Bevor wir loslegen konnten, servierte uns Andreas Mutter im Wohnzimmer warmen Apfelkuchen mit Vanilleeis und Schlagsahne. Es war lecker, doch eigentlich wollten wir endlich nach oben und mit dem Spiel beginnen. Und als sie verkündete: „So, genug gestärkt!“, stürmten wir los.
Andreas hatte zwei Zimmer, in der wir unsere Sternenschlacht verorten konnten: Sein normales Kinderzimmer und zusätzlich den ausgebauten Dachboden, der für ihn und seinen jüngeren Bruder als Spielstätte reserviert war.
„Willst du nach oben?“, fragte er mich. Ich zuckte mit den Schultern. Gab es einen Unterschied?
„Okay. Dann bleibe ich hier. Oben ist auch viel Lego“, verabschiedete er sich in sein Zimmer.
Er hatte recht. Ich war überwältigt von dem, was der Dachboden bot. Es gab Lego ohne Ende: Bruchstücke von Burganlagen, umgestürzte Wolkenkratzer, halbierte Panzer und Überreste von Raumgleitern. Hier hatte es offensichtlich schon des Öfteren heftig gekracht. Ich kniete mich auf den Boden, begutachtete die Trümmerlandschaft. Mit wem hatte Andreas hier gekämpft? Mit seinem Bruder? Jemandem aus der Nachbarschaft? Oder aus unserer Klasse?
Mich überkam eine große Müdigkeit. Am liebsten hätte ich mich in das Tippi gelegt, das wohl noch aus Kleinkindtagen stammte und hier oben aufgebaut worden war.
„Hast du die Teile gefunden?“, riss mich Andreas Stimme aus meinen Gedanken.
„Nein!“, rief ich nach unten. Der kleine Scherz veranlasste ihn, sofort polternd nach oben zu stürzen.
„Was? Willst du mich verarschen? Hier ist doch alles!“
„Ja, ja! Joke am Rande. Hast du schon angefangen?“
„Drei Raumgleiter habe ich schon fertig! Jetzt geht´s an die Mutterschiffe!“
Mir wurde kalt. Das drohte ein desaströser Sonntagnachmittag zu werden, der in der totalen Niederlage meinerseits enden könnte. Drei Kampfgleiter verfertigt, während ich noch in den Steinen herumstocherte. Wie sollte ich seinen Vorsprung jemals aufholen können? Aber es gab kein Entrinnen. Bis sechs Uhr waren wir verabredet. Noch zwei Stunden musste ich mit der Konstruktion von Raumstationen und intergalaktischen Kampfsternen verbringen. Und was die Entscheidungsschlacht betraf, schwante mir, dass ich vollkommen chancenlos war. Gegen Andreas Legokraft kam ich nicht an.
Irgendwann brüllte er von unten: „Wie weit bist du?“
Doch statt meine Antwort abzuwarten, raste er nach oben. In jeder Hand ein fantastisches Mutterschiff, dass dem anderen bis auf den kleinsten Stein glich.
„Lass mal sehen, was du gemacht hast!“
Zögernd streckte ich ihm mein Werk entgegen. Ich hatte gerade mal ein Raumschiff und eine Basisstation zusammengeschustert: kunterbunt, asymmetrisch und ziemlich mickrig. Einfach nicht seriös. Verkniff Andreas sich ein Grinsen, als er mein Werk begutachtete? Doch er sagte nichts, sondern zog nur mit seinen beiden Raumkreuzern mit einem mächtigen WWWRRROOOOOOOOMMMM über meine hippieesken Konstruktionen hinweg, um unten im Kinderzimmer weiter an seiner Flottille zu werkeln. Wie konnte jemand in zwei Stunden so viele Legoobjekte herstellen? Es war unglaublich! Ein komplettes Desaster meinerseits lag in der Luft.
„Andreas! Ihr müsst jetzt Schluss machen“, rettete mich seine Mutter.
„Aber wir haben noch gar nicht gekämpft!“
„Morgen ist Schule. Verabredet euch doch für Donnerstag.“
„Kannst du Donnerstag?“
Und statt zu antworten: „Nein, ich habe Nachhilfe, muss zum Tennis, mit dem Meerschwein zum Tierarzt“, sagte ich: „Ja.“
Donnerstag. Das war in vier Tagen. In vier Tagen würden unsere Welten kollidieren, würde meine untergehen.
„Könnte ich mein Taschengeld für April schon jetzt bekommen?“, fragte ich meine Eltern beim Abendbrot.
„Wozu brauchst du es denn?“, erkundigte sich meine Mutter.
„Für ein Lego-Projekt in Kunst“, log ich, denn meine Eltern lehnten Kriegsspielzeug ab. Die Welt zu retten, forderte eben einen Preis.
„Was macht ihr denn?“
„Wir…wir bauen berühmte Bilder nach“, stotterte ich.
„Wow! Das ist mal kreativ! Wen hast du denn in Kunst?“
Puh. Ich stammelte etwas von einem Referendar und zum Glück wollten sie nicht mehr wissen. Sie verdoppelten sogar den Betrag für April, damit ich mir die notwendigen Steine besorgen konnte.
Am nächsten Tag machte ich mich nach der Schule mit 100 Euro auf den Weg. Das Lego-Depot lag an einer Ausfallstraße in einem Industriegebiet. Von der letzten Bushaltestelle musste ich noch zwei Kilometer latschen. Im Depot gab es die Legosteine farblich sortiert und kiloweise abgepackt. Ich kaufte fünf Kilo rote und fünf Kilo schwarze Steine. Doch die nächste Euphoriebremse lauerte schon: Wie sollte ich vor meinen Eltern den wahren Zweck meiner Legobauerei verbergen? Sie könnten in mein Zimmer kommen und zum Beispiel fragen: „Was ist das für ein Bild, dass du da nachbaust?“ Ja, was dann? Gab es keine Chance? Keinen Ausweg? Wer konnte mir helfen, ohne dass meine Eltern es mitbekämen? Ich zerbrach mir den Kopf: Onkel Kurt? Justin von gegenüber? Luis aus dem Tennisclub? Wer war ein alter Lego-Konstrukteur? Wer konnte mir helfen?
„Hat sich eigentlich der Opa Horst mal bei dir gemeldet?“, begrüßte ich meine Mutter, als ich nach Hause kam.
„Nein, er gräbt sich immer mehr ein. Legt jetzt Vorräte an“, seufzte meine Mutter. Ich ahnte, worum es ging. Ihr Vater hatte sich seit Corona in die Querdenker- und Prepperszene verabschiedet. Unsere letzten Familientreffen hatten mit Geschrei, Türenknallen und Tränen geendet. Ich hatte mich immer gut mit ihm verstanden, und begriff nicht, was in ihn gefahren war. Früher hatten wir tagelang zusammengespielt.
Als Opa die Tür öffnete, nur einen Spalt breit, streckte ich ihm direkt die beiden Säcke mit den Legosteinen entgegen.
„Hier! Wir haben vier Tage Zeit!“
„Hat dich deine Mutter geschickt?“
„Nein!“
Ich erklärte ihm, worum es ging. Er hörte zu, entspannte sich.
„Ich bin dabei“, sagte er schließlich und ich sah ihn nach langer Zeit zum ersten Mal wieder lächeln.
Horst hatte mich und unseren Gigalegoroboter in seinem alten Opel Astra zu Andreas gefahren. Und während er die Mutter von Andreas über die allgemeine Weltverschwörung aufklärte, schmuggelte ich unsere Kampfmaschine versteckt in einer IKEA-Tragetasche ins Haus. Andreas selbst war gar nicht nach unten gekommen. Er saß in seinem Zimmer und werkelte an seinen Raumschiffen und seiner Basisstation herum. Mein „Hallo“ beantworte er nur mit einem kurzen „Hi“. Er war voll konzentriert und bereitete sich auf die Eroberung meiner Welt vor. Wenn du wüsstest! Wir vereinbarten noch eine halbe Stunde zu bauen. Dann würde es losgehen.
Kaum war die halbe Stunde vergangen, hörte ich Andreas die Treppe hochpoltern. Er brüllte „Angriff!“ und stürmte auf mich zu, Laserkanonengeräusche imitierend. „Jetzt bist du dran, Brudi!“, kicherte ich in mich hinein.
Zwecks Überraschungseffektes hatten Opa und ich den Giganten unter einem Kissenbezug versteckt. Als jetzt Andreas heranstürmte, riss ich den Bezug hoch: Und da stand er in schwarz-roter Pracht! Der Gigant der Giganten! Mein Kampfroboter! Über und über mit Laserkanonen, Schutzpanzern und Raketenwerfern gespickt. Bereit, es mit jedem Gegner aufzunehmen. Aber was war das? Opa hatte dem Giganten als krönenden Abschluss ein Aluhütchen verpasst! Ich musste grinsen, doch das Lachen sollte mir schnell vergehen, denn Andreas schrie nur: „Das gilt nicht! Das ist ein anderes Material!“ Vor lauter Aufregung wurde seine Aussprache immer feuchter. Speichelfetzen klatschten gegen mich, den Giganten.
Ich hielt ihn fest vor meiner Basisstation platziert. Doch Andreas war nicht mehr zu bremsen. Er riss den Aluhut herunter, zertrampelte ihn, schleuderte dann ein Raumschiff in Kamikazemanier gegen den Roboter, während er das andere landete, Klappen öffnete und Landungsfahrzeuge über den Giganten herfielen. Zusätzlich riss er an den Gliedern meines Roboters, schrie: „Jetzt bist du dran!“
„Das gilt nicht!“, brüllte ich, hob den Giganten hoch und schmetterte ihn gegen sein Kinn. Andreas schrie vor Schmerz, warf sich auf mich und nahm mich in den Schwitzkasten. So miteinander verhakt, taumelten wir durch den Raum, plumpsten schließlich auf meine Welt und den Giganten und zerbröselten alles. Das war´s gewesen. Apokalypse now. Game over.
Wir sagten dann nichts mehr. Ich kehrte meine Teile in den Kopfkissenbezug und rief Opa an, ob er mich abholen könnte.
„Und: Wie ist es gelaufen?“, fragte er.
Ich murmelte nur etwas von „Lego ist doch Kinderkram.“
„Tja, das kommt davon, wenn man mit Kriegsspielzeug spielt“, grinste er vor sich hin und knuffte mich in die Seite.
Zwei Woche später berichtete mir meine Mutter noch, dass sie Andreas Mutter in der Stadt getroffen hätte. Dass sie gar nichts von dem Lego-Projekt in Kunst gewusst hätte. Und dass sie es schade fände, dass ich Andreas nicht mehr besuchte. Wir hätten uns doch so gut verstanden.
9066; v1