Von Jochen Ruscheweyh

Ich lebe seit 38 Jahren mit der Bürde, ein geburtsurkundlicher Jürgen zu sein. Kein nordischer Jörgen oder wenigstens ein sozialdemokratischer Hans-Joachim, nein, ein Jürgen.

Jürgen tragen hässliche Krawatten über zu engen Hemdkragen, deswegen nesteln sie dauernd daran herum und Aktenkoffer, an denen mindestens ein Schloss defekt ist, hat neulich einer dieser Nachwuchs-Comedians behauptet. Die Krawatte kann ich in der Bank nicht ablegen, aber ich habe mir inzwischen zumindest eine Ledertasche besorgt.

Fünf Bier intus, das ist immer der Zeitpunkt, an dem ich ins Grübeln komme, aber ich bin Profi und fange mich schnell wieder …

 

Ich gebe dem Studenten hinter dem Verkaufstresen am Bahnsteig Zeichen. Zwei Pils für den Weg. Eins für mich und eins für Falko.

Wenn ich mit Falko unterwegs bin, ist es egal, dass ich ein Jürgen bin. Ich glaube, er sieht mich noch nicht einmal so, als Jürgen. Weil er zu sehr damit beschäftigt ist, er selbst zu sein.

Falko ist ein Typ, der sich nicht daran stört, wenn er aneckt. Allein schon sein Name … Falko … klingt wild, ungebändigt, nach Raubvogel.

Nicht alle Leute mögen Falko, weil er ihnen spiegelt, was sie eben nicht sind: nämlich authentisch.

Ihm fallen viele Sachen in den Schoß, obwohl er vollkommen chaotisch, nicht organisiert und noch weniger strukturiert ist. Er hat und macht keine Pläne, entscheidet alles aus dem Bauch heraus. Er steht quasi stellvertretend für den Prototyp eines Neid-Erzeugers.

 

Die Wahrheit ist aber auch: Leute wie Falko sind nicht überlebensfähig in dieser Welt.

Weil sie sich selbst im Weg stehen.

Weil sie Ideale haben.

Und weil sie eben keine Jürgen sind.

 

Ich stehe morgens auf und tue dann achtzehn Stunden lang nichts anderes als Optionen auszuloten, die mir einen Vorteil verschaffen können. Für andere würde das Stress bedeuten, für mich hingegen Eustress, die positive Variante.

Ich schlängele mich wie ein Reptil durch Begegnungen, Situationen, Meetings. Denn ich bin immer dann am erfolgreichsten, wenn ich am wenigsten Rückstände hinterlasse. Schnecken sind so leicht im Beet zu finden, weil sie eine Schleimspur hinter sich herziehen. Deswegen besteht die Kunst des hohen Opportunismus darin, sich gerade nur so weit zu verbiegen, dass es niemandem auffällt.

 

Ich würde mich Falko niemals öffnen. Unsere Beziehung ist da eher asymmetrisch. Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie wir uns kennengelernt haben oder wer uns einander vorgestellt hat. Aber mir war sofort klar, dass diese Verbindung lohnenswert wäre, denn Falko ist ein Türöffner zu anderen. Ich lasse ihn erzählen und picke mir heraus, was ich gebrauchen kann, gebe ihm aber gleichzeitig das Gefühl universellen Verständnisses.

Jürgen können zuhören, können Sicherheit vermitteln, während sie simultan ihren nächsten Schritt planen.

 

Falko sieht mich nicht an, als er mir erzählt, dass er Martina nicht halten kann. Es wäre grundverkehrt, ihm zu vermitteln, dass sie ihn nicht verdient hat, denn das will seine verletzte Künstlerseele nicht hören.

Ich mäandriere mich durch die Eckpunkte, dass Eindrücke immer einer gewissen Subjektivität unterliegen, Gefühle andererseits einen Grundgehalt besitzen, eine Beziehung immer einer gewissen Dynamik unterliegt und dass meine Sorge darin besteht, was seine eigene Sorge mit ihm macht.

 

Martina ist die Art Frau, die die Struktur eines Jürgens braucht, um sich eingeengt zu fühlen. Um dann daraus die Legitimation abzuleiten, mit einem geistreichen, kreativ-spontanen Falko fremdgehen zu dürfen, um sich selbst wieder spüren zu können. Bis sie realisiert, dass Esprit, Kreativität und Spontaneität nur Ausdruck einer überzogenen Selbstliebe sind und vor allem keine Rechnungen bezahlen. Spätestens dann fängt sie wieder an, nach einem Jürgen zu suchen.

 

Ich habe nicht aktiv in diesen Prozess eingegriffen, sondern lediglich getan, was ich immer tue: Optionen ausgelotet.

Vielleicht ein paar Bröckchen für Martina auf den Weg gestreut, aber, dass sie ihnen gefolgt ist, war ihre eigene Entscheidung.

Sicher hätte ich mich noch einmal für Falkos Kreditwürdigkeit stark machen können, aber zum einen lief das hinter den Kulissen ab und zum anderen sollte man Geschäftliches und Privates nicht vermischen. Ein Atelier muss eben finanziert werden. Das muss auch einem Falko klar sein.

Was Martina und ich hatten, würde ich Geschäftsessen nennen, Prädikat: harmlos. Bis jetzt.

Vorsorglich habe ich mir Falkos Eau de Toilette besorgt, dass ich seit einiger Zeit dezent über meinem eigenen auftrage. Das macht es Martina leichter, wenn der Moment da ist und Falko riecht niemand anderen außer sich selbst.

 

Falko legt seine Hand auf meine Schulter. Ich wäre ihm immer ein guter Freund gewesen. Das Problem ist nicht, dass er so empfindet, sondern dass er betrunkener ist, als ich angenommen habe. Kreative neigen zu irrationalen impulsiven Handlungen. Das macht es schwierig, Optionen auszuloten. Erst als sich seine Hand langsam vom Stoff meiner Jacke löst, erkenne ich, was er vorhat. Der einfahrende ICE hat noch ausreichend Geschwindigkeit. Ich sehe ihn zum Sprung ansetzen. 85 kg gegen 400 Tonnen. In Sekundenbruchteilen erkenne ich, dass mich dieser Umstand emotional nur in sofern berührt, als dass er mich wütend macht. Dass ich es als persönliche Kränkung empfinde, dass er sich meiner Struktur entziehen will. Gleichzeitig wird er mit dieser Kurzschlusshandlung zum tragischen Held in der Pseudoromanze mit Martina und mutiert für sie zur Ikone, was diese Straße zu einer Einbahnstraße werden lässt, bei der ich aus der falschen Richtung komme. Ich packe zu, wirble ihn in einem makabren Tango mehrmals herum und weg von der Bahnsteigkante. Schließlich kommen wir auf einer Bank zu sitzen. „Warum hast du das getan, warum hast du mich nicht springen lassen?“, presst er neben seinen Tränen heraus.

„Weil du mein bester Freund bist und ich dich liebe“, sage ich und streiche über seinen Kopf wie ein Vater es bei seinem Sohn tun würde.

„Du hast ein Herz aus Gold“, höre ich ihn schluchzen.

Ich denke, Teflon würde es besser treffen.