Von Jochen Ruscheweyh

„Es geht doch nichts über eine gute salzige Meeresbrise!“, erklärte Werner, während Hilde über die Reling in den Sonnenuntergang blickte.

Liebevoll strich Werner über ihren Unterarm und spürte dabei ihre leichte Gänsehaut.

„Soll ich dir deine Strickjacke holen?“

„Nein, mir fröstelt nur ein wenig, ist sicher gleich vorbei.“

„Ja, das hat man manchmal“, erklärte Werner.

„Und es gibt Schlimmeres“, fügte sie hinzu, während die untergehende Sonne am Horizont wie eine Apfelsine auf dem leicht gewellten Wasser zu tanzen schien.

„Gut haben wir es schon ganz schön“, sagte Hilde.

„Das haben wir, he, was ist denn, Fleischmann?“ Der Spaniel zupfte an Werners Hosenbein.

„Vielleicht muss er“, bemerkte Hilde, „geht ihr mal, ich mach mich schon fertig.“

 

 

Der Cockerspaniel schnüffelte intensiv an der kurzgehaltenen Rasenfläche, gähnte und ließ sich dann neben dem Rasen auf dem sonnengewärmten Deckboden nieder.

„Komm, Fleischmann!“, sagte Werner und zog an der Leine.

Hätte Werner Scholz sich noch einmal umgeblickt, wäre ihm die widerliche Fratze Satans aufgefallen, die menschenverachtend dort vom Horizont herübergriente, wo sich wenige Momente zuvor die Sonne befunden hatte und sich nun bizarr in den wilder zuckenden Schaumkronen spiegelte.

 

Fleischmann taperte eher zögerlich hinter Werner her. „Was zum Teufel …“, begann Werner, kam aber nicht weiter, da das metallische Summen aus dem Transformatorhäuschen gegenüber plötzlich derart an Intensität zunahm, dass Werner beide Hände an die Schläfen presste und zusammenbrach.

 

 

„Guter Mann, benötigen Sie Hilfe?“

Werner versuchte sich zu orientieren. „Was ist passiert?“

„Nun, Sie haben sich gerade im Kot Ihres Hundes gewälzt.“

„Aber, das ist absolut unmöglich, ich …“, blickte Werner zu dem Mitreisenden hoch.

Obwohl die Dämmerung bereits vom Schiff Besitz ergriffen hatte, bemerkte Werner, wie der Mann errötete. „Oh, entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht gleich erkannt, Herr Rossi, warten Sie, ich helfe Ihnen auf.“

„Ich glaube Sie verwechseln mich. Mein Name ist Scholz, Werner Scholz.“

Ein verstehendes Lächeln trat auf das Gesicht seines Gegenübers: „Sie reisen unter anderem Namen. Verstehe. Nur eine Bitte, dürften meine Frau und ich morgen ein Foto mit Ihnen machen?“

Werner legte seine Stirn in Falten. „Ein Foto mit mir?“

„Sie würden ihr so eine große Freude machen. Wir haben Kabine 201 auf dem zweiten Unterdeck.“

 

 „Was war das denn für ein komischer Heiliger?“, schüttelte Werner kurz den Kopf und verließ den Rasenbereich. „Und lass das Fleischmann, wir sind hier nicht alleine!“, raunte er dem Cockerspaniel zu, dessen Pfoten nicht den Boden berührten, sondern wenige Zentimeter darüber schwebten, beugte sich aber dann doch herunter und flüsterte: „In deinem nächsten Leben wirst du hoffentlich von einem Sozialpädagogen aus dem Kreuzviertel erzogen, und lernst nichts von diesem übersinnlichen Zeug.“

Zur Kontrolle, ob Fleischmann seiner Ansage wirklich nachgekommen war, blickte Werner sich nicht etwa um, sondern schaute zur verspiegelten Flurwand.

Was er entdeckte, beunruhigte ihn zutiefst.

 

„Fällt dir was an mir auf?“, überfiel er seine Frau Hilde in der Kabine.

Diese schnupperte im Vorbeigehen kurz an ihm. „Du riechst nach Westfälisch Truthahn Senior, hat Fleischmann dir wieder das Gesicht abgeschleckt?“

„Nein, nein. Sieh mich doch mal an.“

„Du siehst aus wie immer.“

„Aber du musst das doch sehen!“, zog Werner Hilde ins Badezimmer der Kabine, wo Fleischmann gerade Männchen machte und mit seinem Urinstrahl in die Toilette zu treffen versuchte.

„Aus, Fleischmann, und ab, aber ganz schnell!“, herrschte Werner den Spaniel an.

„Von wem hat er sich das wohl abgeguckt?“, stichelte Hilde.

Werner ignorierte den Einwand, schob Hilde vor den Alibert und positionierte sich daneben.

„Oh, mein Gott“, hauchte sie, „oh, mein Gott.“

Aus dem Spiegel starrte ihr Semino Rossi entgegen.

 

„Oh, mein Gott“, wiederholte Hilde, jetzt bereits zum dritten Mal, strich Werner über sein schütteres graues Haar, während das Spiegelbild zeigte, wie ihre Finger mit den feingedrehten, anthrazitfarbenen, vollen Löckchen von Semino Rossi spielten.

„Kannst du jetzt mal damit aufhören? Ich habe ein sehr ernsthaftes Problem. Scheinbar sehe ich für alle außer uns beiden so aus!“ Werner zeigte auf den Spiegel.

„Du? Du hast ein Problem?“, empörte sich Hilde. „Alle Frauen lieben Semino Rossi. Und jetzt siehst du einmal anders aus als sonst, und ich habe nichts davon, nur die anderen.“

„Ach“, bemerkte Werner, „wie sehe ich denn sonst aus?“

„Hör auf damit, du weißt doch, wie ich das meine.“

„Nein, ich will es jetzt hören.“

Hilde sagte leise: „Na, eben wie jemand, der vierzig Jahre bei den Stadtwerken gearbeitet hat.“

Werner schnappte kurz nach Luft und verließ das Badezimmer.

 

Im Schlafzimmer setze er sich auf die Bettkante und starrte auf die gegenüberliegende Wand. Fleischmann kam einer Spinne ähnlich unter der Zimmerdecke entlang gekrabbelt und ließ sich wie an einem unsichtbaren Faden von der Decke hinab, kam rücklings neben Werner zu liegen und begann noch aus dieser Position, Werner die Hand abzulecken.

„Ach, Kumpel, auf dich kann man sich wenigstens verlassen. Tut mir leid, dass ich vorhin so ungehalten zu dir war. Und du magst mich auch ohne Locken.“

 

„Es … es tut mir auch leid. Ich hab es nicht so gemeint“, drang es aus dem Bad herüber. „Es ist nur so, ach, ich weiß auch nicht.“

Werner hielt die Luft an.

Dann erschien Hilde in der Tür. „Ich war nicht ich selbst, es war, als ob ich mir selbst beim Denken zugesehen hätte und wie mir jemand diese dämonischen Gedanken einpflanzt. Es war beinahe so, als stünde der Teufel selbst hinter mir.“

Bei dem Wort Teufel heulte Fleischmann auf, als gäbe es kein Morgen.

Werner sprang auf und schloss Hilde in seine Arme. „Ich wusste, dass das nicht mein Täubchen ist, das solche Dinge sagt.“

„Nichts kann uns trennen“, bekräftigte Hilde, „nicht einmal der … du weißt schon. Aber er hat gedacht, er wäre gründlich gewesen, war er aber nicht. Komm mal mit!“

Sie bugsierte Werner ins Bad und stellte ihn im Profil vor den Alibert.

Als nächstes klappte sie die Seitenteile des dreispiegeligen Hängeschranks so um, dass sich eine Vielzahl neuer Spiegelungen ergab. Mit jeder neuen Spiegelungsebene verblasste Semino Rossi mehr und Werners Anlitz schimmerte stärker durch.

„Siehst du“, sagte Hilde, „er war nicht gründlich.“

„Das ist genial!“, rief Werner, „aber wie bist du darauf gekommen?“

„Wer putzt denn bei uns zu Hause den Alibert?“, lächelte Hilde.

„Wie gut, dass du dich in deinem Reich so gut auskennst!“, gab Werner zurück.

„Und wenn wir zu Hause sind, koche ich dir einen extra großen Vanillepudding, so wie du ihn magst. Aber jetzt müssen wir schauen, wie wir deine richtige Ebene wieder zum Vorschein bringen.“

„Ich glaube, Fleischmann will uns etwas sagen“, sagte Werner.

Der Cockerspaniel deutete mit der Pfote auf eine Wandsteckdose. Dann bleckte er die Zähne, begann zu zittern und warf sich auf die Seite.

„Oh, mein Gott!“, stöhnte Werner „Jetzt fällt es mir wieder ein: Das Transformatorhäuschen, das Summen, mein Zusammenbruch. Hilde, wir brauchen jemanden, der sich mit Transformatoren auskennt!“

Erneut zupfte Fleischmann an Werners Hosenbein. „Du weißt jemanden, Kumpel?“

Der Spaniel machte sich flach, streckte die Schnauze vor und robbte voran.

„Bundeswehr?“, fragte Werner.

Fleischmann jaulte.

Da mischte sich Hilde ein: „Er sieht fast so aus wie Wastl, der in ein Krokodil verzauberte Langhaardackel der Witwe Schlotterbeck im Räuber Hotzenplotz. Wir haben das einmal mit der Frauenhilfe aufgeführt.“

Plötzlich griff sich Werner an die Stirn: „Ich Dummkopf. Krokodil, Modellbahnbörse, mein Modellbahn Club Kamerad Heinz Popanda, der beste Ingenieur, den ich kenne. Wir müssen Kontakt zu ihm aufnehmen, Hilde!“

 

 

„Schnell, Kapitän, wir brauchen ihr Satellitentelefon, es geht um Leben und Tod.“

Der Kapitän strich über seinen roten Rauschebart. „Normalerweise haben Zivilisten nichts auf der Brücke zu suchen, auch keine Schlagerfuzzies, aber euren Schneid, hier so reinzuplatzen und Forderungen zu stellen, bei meiner Treu, das hat was! Hansen, geben Sie dem Ehepaar alles, was es braucht!“

„Auch den Plasmabrenner, Kapitän?“

„Von mir aus auch den Tiedenhubpotentiator, sehen Sie sich doch mal das Wetterchen draußen an, das ist ein Jahrhundert-Tiefdruckgebiet, Hansen, entweder laufen wir als Helden in Helsinki ein, oder wir saufen ab, alle. Aber wenn wir absaufen, dann sollen Herr Rossi und seine Agentin als Helden absaufen!“

 

„Ich kann dich kaum verstehen, Heinz, du meinst, wir müssen das Zentralrelais suchen?“

Hansen stemmte sich gegen die vom aufbrausenden Wind immer wieder zuschlagende Tür des Transformatorenhäuschens.

„Wie ein quadratischer Tuppertopf mit Deckel? Kannst du das präzisieren?“, rief Werner in das Telefon und zu Hansen: „Machen Sie den Plasmabrenner klar, ich glaube, ich habe es!“

Währenddessen drängte sich Fleischmann an dem Assistenzkapitän vorbei, eine handelsübliche Kombizange im Maul.

„Heinz“, brüllte Werner jetzt in das Satellitentelefon, „ich sehe drei Drähte zum Relais: rot, gelb oder schwarz?“

Für einen Moment ließ der Starkwind nach und eine fast gespenstische Stille entstand.

„Danke, Kumpel!“ Werner nahm die Zange aus dem Maul des Cockerspaniels entgegen und die Zeit schien stillzustehen, als er die Backen der Zange um den roten Draht legte.

Ein Blick zu Hilde, zu Fleischmann, dann zu Hansen, der ihm Daumen hoch zeigte, dann drückte Werner zu.

 

„Ihr seid Helden“, bemerkte der Kapitän, und klopfte Werner auf die Schultern, „aber ein wenig vermisse ich deine Locken, Sportsfreund.“

Hilde strahlte ihren Gatten an und sagte: „Wer braucht schon Locken? Auf die inneren Werte kommt es an. Komm tanz mit mir.“ Sie erhob sich vom Tisch und zog Werner auf das viel betanzte Parkett, während sich Fleischmann ein Maracuja Tonka Bohnen Dessert vom Tisch stibitzte.

 

Hansen hingegen war zur Reling gegangen und schaute auf das Meer, wie friedliches es doch unter ihnen lag. Dann griff er sich an die Schläfen und brach zusammen.