Von Jochen Ruscheweyh

„Come on, Darling, du solltest mal – wie sagt man – relax, wir seien on Holidays“, rekelte sich Kimberley in ihrem Campingstuhl und angelte nach meiner Mustard-Chips Tüte.

„Ich kann das nicht, Kimb. Ich hab irgendwie dieses Aktivität-Gen in mir.“

„Bollocks“, schüttelte sie den Kopf und die letzten Chips aus der Tüte. Ihre war schon seit einer Stunde leer. „Du hast wieder diese Crisis, weil du schon lange nichts mehr hast geschrieben und denkst, du musst mit deine writing unsere Familie erfüttern.“

„Du meinst durchfüttern. Nein, das ist es nicht. Ich meine, wir sind in deinem Heimatland und ich habe das Gefühl, ich muss irgendetwas Außergewöhnliches tun.“

Kimberley knüllte die nun leere Tüte zu einer Kugel zusammen und warf sie, ohne sich umzudrehen, über die Schulter hinter sich in den Innenraum des Bullis. Dort sprang das runde Etwas wie in einen 70er Jahre Flipper geschossen nervös hin und her, wurde immer wieder von den Seitenwänden abgefälscht, bis es schließlich final vom Armaturenbrett in eine Marks&Spencers Tüte tickte, die ich als Abfallbeutel aufgehängt hatte.

„Lass das, Kimb!“, sagte ich, weil ich es nicht mochte, wenn sie mit ihren Taschenspielertricks anfing. „Verstehst du nicht? Ich möchte etwas von Bedeutung tun, mich mit einer historischen Persönlichkeit beschäftigen, ein Projekt, oder so.“

Auf ihrer Stirn bildete sich diese kleine Zornesfalte, die mir immer signalisierte, dass Weiterdiskutieren nur unter einer gewissen Vorsicht möglich war.

I am a historical personality, du solltest dankbar sein, dass du Zeit verbringen darfst mit mir“, sagte sie. Und ja, manchen Tag war ich tatsächlich geneigt zu glauben, mit einem fünfhundertjährigenjährigen leicht drallen Fabelwesen oder einer chubby elb, wie sie sich selbst nannte, zusammenzuleben. Aber unsere Tochter Lizzy war eben nicht aus einem hohlen Baumstamm gekrochen, sondern minder-esoterisch per Kaiserschnitt im Brackeler Knappschaftskrankenhaus geholt worden. Und so bevorzugte ich mittlerweile die Sichtweise, dass die meisten spektakulären Dinge, die mir mit Kimberley passierten, entweder Zufall oder des Schicksals Metapher für meine motorischen Inkompetenzen sein mussten, zu deutsch Wahrnehmungsstörungen, wenn ich mir mal wieder irgendwo den Kopf gestoßen hatte. Außerdem, wenn es tatsächlich Elfen gäbe, würden die sicher keine fünfhundert Jahre alt werden. Aber das behielt ich lieber für mich.

„Komm, Kimb, du weißt, dass ich es nicht so gemeint hab.“

„Dann you should es besser nicht sagen, wenn du es not so meinst. Mach es wieder gut!“

Wiedergutmachen hieß, dass ich Kimberleys Sommersprossen zählen musste. Die im Gesicht. Nur wenn sie extrem sauer war, bestand sie darauf, die Schultern mit dazuzunehmen.

„527“, erklärte ich, sparte mir aber den Zusatz wie beim letzten Mal und den Malen davor.

„Ah, that’s quite good“, seufzte sie, als ob ein differentes Ergebnis einen Unterschied machen würde.

„Gibst du mir Lizzy, please?“

 

„Das ist your own personal German Angst“, diagnostizierte Kimberley, während Lizzy bereits schmatzte. „Ihr habt ständig die Gefühl, ihr seid incomplete, wenn ihr nicht irgendwo – wie sagt man – eine Haken auf eine To Do – listing machen könnt.“

„Wir nennen das Kultur“, ließ ich mich nicht von ihr provozieren. „Für mich hat das etwas mit Wertschätzung zu tun, mit Respekt deinem Volk und deinen Vorfahren gegenüber.“

„Bollocks“, schnaubte sie, „willst du dich an die Sockel von Wallace Monument stellen und cherrish diese wenker, dass he thousands of young scots in den death geführt hat?“

Ich überlegte einen Moment. Dann sagte ich: „Verdammt, ich glaub du hast recht, ich habe tatsächlich eine Schreibblockade.“

„Darling, sollst du fluchen in front of your daughter? Du machst mich wirklich wütend.“

 

Ihre Wut führte über Umwege dazu, dass meine Tochter gesättigt in ihrem Bettchen schlief, während der von mir erwartete Deeskalationsversuch an genau der Stelle begann, wo Lizzy aufgehört hatte.

 

In der Nacht wachte ich auf, da der Mond das Innere des Busses beinahe taghell erleuchtete.

Normalerweise hätte ich frieren müssen, denn die nächtliche Kälte des Sees stieg die Anhöhe bis zu unserem Stellplatz hinauf. Aber in mir brodelte und blubberte die Inspiration wie ein Cullen Skink, das fühlte ich ganz deutlich. Aber im Gegensatz zu dieser schlotzigen Fischsuppe, die Kimberley traditionell bei offenem Topf einkochen lässt, lag bei mir mindestens ein Deckel aus Gusseisen obenauf.

Ich vergewisserte mich, dass Lizzy gut zugedeckt war, band mir eine Decke um die Taille, entfaltete einen Campingstuhl draußen vor dem Bus und setzte mich hinein.

Dann ging ich – eben doch typisch deutsch – im Geiste meine Liste mit bekannten Persönlichkeiten durch und hakte jene ab, die von vornherein ausschieden.

Sicher, William Wallace war bestimmt kein Ghandi gewesen, aber das disqualifizierte ihn nicht grundsätzlich, in die engere Auswahl bedeutender Persönlichkeiten zu kommen. Schwerer wog für mich der Umstand, dass wahrscheinlich alle historischen Quellen den gesichtsbemalten Kiltträger betreffend offen lagen, er in literarischem Sinne also ausrecherchiert war. Es machte also kaum Sinn, ein Projekt mit ihm im Fokus zu beginnen. Das traf allerdings auf fast jeden der recht überschaubaren Gruppe von verstorbenen schottischen Würdenträgern zu.

Ich bemühte mich, die dringend notwendige Frust-Dose McEwan Lager möglichst zischfrei zu öffnen, um Lizzy und Kimberley nicht zu wecken.

 

Gegen Morgen fiel ich in einen unruhigen Schlaf, aus dem ich just aufschreckte, als mich ein blaugesichtiger Sean Connery Verschnitt mit The Exploited Bürstenschnitt anbrüllte: „Dr.Creativity muss sterben, damit Schottland leben kann!“ und mir ein Kissen auf mein Gesicht drückte. In der Realität angekommen erkannte ich, dass Kimberley mich beim Löffeln mit ihren kräftigen Hafenarbeiter-Oberarmen wohl unbewusst in den Schwitzkasten genommen hatte.

Ich befreite mich aus ihrer Umklammerung, küsste meine schnarchende Pseudo-Elfe auf die Wange und wollte gerade einen Monolog beginnen, als sie ein Auge öffnete und mit geschlossenem Mund – und daher vokallos – etwas brummte:

„Der Toast wird sich selbst beschmieren!“

 

„Was hast du damit gemeint heute morgen?“, fragte ich, während Kimberley mich hinter sich her zog, an der Schlange vorbei, dabei meine Hand bis zur Verstümmelung quetschte und zusätzlich noch Lizzy im Tragebeutel umgeschnallt hatte. Statt zu antworten, spuckte sie der Kassiererin des Glenmorangie Visitor Centers einige Brocken Gälisch hin, die so abgrundtief böse klangen, dass diese zusammenzuckte und dann hektisch Zeichen gab, dass wir passieren konnten.

„Sorry, Darling, but I fuckin’ hate queueing up“, säuselte sie mir in der honigsüßesten Winnie the Puh Stimmlage zu, die ich je an ihr gehört hatte.

„Kimb, egal wie sehr du Schlangestehen hasst, du kannst doch nicht …“

Wie um meine Bedenken zu zerstreuen, legte sie eine Hand auf meine Schulter. Ich hörte gerade noch, wie Kimberley einer deutschen Reisegruppe zurief: „Don’t panic, meine hubbie ist okay, er ist nur a little bit dizzy – wie sagt man – Kreislauf.“ Dann zog es mir die Beine weg.

 

Ich sah Kimberley und mich aus der Entfernung, verschwommen, denn ich schwappte in einer Flasche und ergoss mich in ein Glas. Ich war nicht immer in einer Flasche gewesen, sondern erinnerte mich an die weichen Rundungen von Eichenholz und an eine leichte Sherry-Note, die immer mehr auf mich überging, eins mit mir wurde, die Brennmeister, die Gerste, aus der ich fermentiert war, durch die der Highlandwind gestrichen hatte. Jetzt im Glas wurde ich geschwenkt, schwappte hin und her, wurde an einen Mund geführt und … getrunken. Ich umspülte eine Zunge, einen Gaumen, benetze die Rückseite von Lippen, bevor ich in einem LSD ähnlichen Farbrausch explodierte.

Das, was von mir übrig blieb, formierte sich neu, richtete sich aus, wurde angezogen wie von einem Magneten. Ich wurde mir meiner schuppigen Oberfläche bewusst, verfiel in die einzigen Bewegungen, die Sinn ergaben: immer nach vorne, gegen den Strom und wenn nichts mehr ging, ein Schlag mit der Schwanzflosse, Sprung und wieder eintauchen. Meine Bauchhöhle kribbelte, bald würde ich laichen. Wann war bald? Gab es Zeit oder gab es nur das Ziel, die Quelle?

Ich löste mich erneut auf und materialisierte mich ein drittes Mal. Schaute auf eine Hand, meine Hand und den Siegelring: RLS.

Robert Louis Stevenson. Mir gegenüber ein gebrechlicher älterer Mann, von der Seefahrt gezeichnet. Ich hörte mich sagen: „So, ihr schreibt also über die Abenteuer, die ihr erlebt habt. Und über einen Piraten namens Flint. Mit Verlaub, ich bin überzeugt davon, dass es nicht besonders gut ist. Gebt es mir, ich kann es besser machen.“ Mit sanftem, aber bestimmten Druck nahm ich ihm das Bündel Papier ab und legte es auf ein anderes Manuskript, das ich einem dem Morphium verfallen Arzt in der Woche zuvor abgeschwatzt hatte: Dr.Jekill und Mr.Hide.

 

Wie durch einen Trichter gedrückt fand ich mich auf einer Bank sitzend im Park des Glenmorangie Visitor Center wieder, den Blick auf Kimberleys Lippen gerichtet und diesmal verstand ich klar und deutlich: „Like I said diese Morning in Bed: Ecosse wird sich dir erklären.“

Ehe ich reagieren konnte, erstickte Kimberley jegliche weitere Nachfrage, indem sie mir einen Kuss aufdrückte, der so unglaublich war, wie sie selbst.

 

 

Ich sitze vor unserem Bus, während Lizzy und Kimberley nahezu synchron schmatzen. Nur, dass bei Kimberley der Grund in einer weiteren Tüte meiner Mustard-Chips liegt.

Die Blockade ist durchbrochen. Denn ich tippe in mein iBook: „Eine literarische Reise beginnt nicht mit dem ersten Schritt, sondern mit der Erkenntnis, dass nicht das Individuum, nicht eine singuläre Handlung oder ein Ereignis kulturprägend sind, sondern das Kollektiv als Summe der Einzelinteressen.“

Es klingt zwar aktuell noch mehr wie eine Botschaft aus einem gratis Glückskeks in der Philosophie-Mensa statt nach einem Bestsellervorwort, aber um Stevenson zu zitieren: „Ich kann es besser machen.“

 

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