Von Jochen Ruscheweyh

Die Stadt war klein. Selbst für den Mittleren Westen. Tankstelle mit KFZ Werkstadt, Friseur, ein Store, der alles führte, ein paar Häuser und das Lyptus Hole.

Ein Restaurant wie das Hole war mir auf meinem gesamten USA Trip nicht untergekommen: Holz, wo man hinguckte, selbst das Budweiser wurde in geschnitzten, wenn auch behandelten Humpen ausgeschenkt. Gäste schien es an jenem Abend kaum zu geben. Umso erstaunter war ich, als ich mich an einem Tisch niederließ  und mir ein schnurrbärtiger Mann in einer ausgewaschenen Army-Jacke die Hand auf die Schulter legte. „Sie können hier nicht sitzen, Mister. Der Platz ist besetzt“, nuschelte er mir in breitem Provinz-Dialekt entgegen. Da ich grundsätzlich ein Mensch war, der Konflikten gerne aus dem Weg ging, erhob ich mich und hielt nach einem anderen Tisch Ausschau.

Das Hole füllte sich zusehends, während ich auf meine Rippchen wartete. Aber jener Tisch, den ich mir zuerst ausgesucht hatte, blieb unbesetzt.

 

„Nur auf der Durchreise oder wollen Sie sich bei uns niederlassen?“, sprach mich die Army-Jacke an, als wir uns im WC über den Weg liefen.

„Auf der Durchreise“, bestätigte ich. Das schien ihm als Antwort zu reichen, denn er gab ein kurzes, grunzendes Geräusch von sich, rückte seine Baseball-Kappe zurecht und stellte sich vor dem Urinal in Position.

Solange er mit dem Öffnen seiner Hose beschäftigt war, überlegte ich, konnte er mir keinen Fausthieb verpassen. Also sagte ich: „Entschuldigen Sie, dass ich sie jetzt einfach mal direkt frage, aber mir ist aufgefallen, der Platz ist immer noch nicht besetzt …?“

Ich hörte ein kräftiges Plätschern und seine Gesichtszüge entspannten sich. „Das ist korrekt, Mister, verdammt scharfsinnig beobachtet.“

Meine anfängliche Zurückhaltung wich einem gewissen Frust, meinem Gegenüber alles aus der Nase ziehen zu müssen. „Und warum?“, setzte ich nach.

Er zog die Nase hoch und knöpfte seine Hose zu. „Der Tisch ist für Brian Staff reserviert!“

Der Ton in seiner Stimme vermittelte mir, dass er scheinbar davon überzeugt war, mir eine alleserklärende Auskunft gegeben zu haben. Im Vorbeigehen legte er mir noch einmal seine Hand auf die Schulter und fügte – diesmal fast kumpelhaft – hinzu: „Wenn du Glück hast, lädt er dich an seinen Tisch ein.“

 

Ich schob mir gerade eine Gabel gecrummbelten Apple Pie in den Mund, der, wie ich fand, ideale Abschluss meines Dinners, als ich das Gefühl hatte, dass sich die Wand mir gegenüber bewegte. Nein, nicht die Wand, sondern vielmehr einer der wuchtigen Stämme, die in bester Blockhaustradition die Wände bildeten. Tatsächlich bewegte sich nur ein Teil davon, schwang wie in einem Scharnier gelagert auf und bildete so etwas wie eine überdimensionierte Katzenklappe, durch die zu meiner Verblüffung aber kein Stubentiger, sondern ein Koala Bär in den Raum stieg. Er mochte ca. 80cm groß sein und zeigte einen leichten Bauchansatz, auf den er – wie zur Bestätigung, dass er noch da war – kurz klopfte, bevor er auf den erwähnten freien Tisch zuhielt.

Als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt brachte die beschürzte Bedienung Kathy (ihr Name war über ihrer linken Brust eingestickt) einen üppig belegten Burger, machte einen Knicks und zog wieder von dannen. Der Koala nahm den Burger in die Pfoten, biss hinein, dass die Soße an den Seiten herausquoll und begann – fast bedächtig, wie es mir vorkam – zu kauen. Er schien zu bemerken, dass ich ihn mit meinem Blick fixierte, denn er legte den Burger ab und winkte mir zu, ich möge an seinen Tisch kommen. Zumindest deutete ich es so.

 

„Jetzt frag mich schon!“

Ich war zu überrascht, um seiner Aufforderung nachzukommen, denn ich suchte immer noch nach Nähten oder Verschlüssen, denn irgendwie musste man den offensichtlich kleinwüchsigen Menschen ja in das Tier- oder besser Koala-Kostüm reingeschossen haben. Oder, wenn sich kein Mensch darunter verbarg, dann könnte es sich nur um einen lebensechten, programmierten Roboter handeln. Aber selbst wenn das Google Auto bereits als Prototyp auf Straßen fuhr, war ich nicht überzeugt, dass man so realistische Bewegungsabläufe hinbekam, solange es sich nicht um Animationen auf einem Bildschirm handelte.

„Frag, was mich alles fragen“, schob der Koala hinterher.

Mir war nicht klar, was er damit meinte und versuchte es erst mal mit „Wer bist du?“

„Brian Staff“, antwortete er, während er erneut in seinen Burger biss, „und ich habe diese Stadt gegründet.“

„Wieso …?“

Er zuckte mit den Schultern: „Vielleicht, damit ich immer jemanden habe, der mir einen Burger brät?“

„Aber das ist vollkommen irrational, ich meine, du bist ein Bär. Bären können nicht sprechen, außer Winnie Puh, aber der ist ein fiktionaler Charakter.“

„Wenn ich dir irreal vorkomme, dann versuch doch mal, mich wegzudenken und am besten auch das Diner hier und die restlichen Gebäude in der Stadt gleich dazu.“

„Was haben die Menschen damit zu tun?“, wandte ich ein.

„Wenn du dir mich und die Gebäude wegdenkst, würden Kathy und Jim – er zeigte auf die Army-Jacke – und die anderen hier irgendwo mit dir in der Prairie stehen, das wäre ziemlich sinnlos, oder?“

„Dann bin ich wahrscheinlich verrückt geworden, durchgeknallt, psychotisch.“

Der Koala – oder vielmehr Brian – sah mich an. „Was ist denn das letzte Ereignis, was du definitiv als real einordnen würdest?“

Ich überlegte einen Moment. „Dass ich in diese Stadt gekommen bin?“, antwortete ich, wobei mir auffiel, dass ich es als Frage formulierte.

„Na richtig überzeugt scheinst du ja nicht zu sein.“

„Die vorherige Stadt?“

Brian blickte zur Decke und deutete ein Pfeifen an, soweit Koalas überhaupt pfeifen konnten.

Ich war versucht zu sagen: „Der ganze USA Trip?“, aber Brian schien meine Gedanken zu erraten. „Bist du dir sicher, dass ein Land, dass Schauspieler, Erdnussfarmer, Nicht-Inhalierer, Öllobbyisten, Sozialarbeiter und Fönwellenträger zu Präsidenten macht, real ist?“

Stattdessen sagte ich: „Ich verstehe, ich soll für mich mitnehmen, dass es sich lohnt, Dinge zu hinterfragen und dass es auf den Bezugspunkt ankommt, um Sachverhalte zu beurteilen. Richtig?“

„In einer anderen Realität könnte Kathy“ – er winkte der Bedienung zu, die ihrerseits lächelte und zurückwinkte – „bereits 6 forensische Romane geschrieben haben.“

„Du meinst, ich könnte mehr aus meinem Leben machen?“

„Wenn ich dir diese Frage beantworten soll, hätte ich gerne deinen gecrumbelten Apple Pie dafür.“

„Jetzt komm“, hielt ich ihm entgegen, „du kriegst doch alles hier für lau, warum willst du meinen Apfelkuchen?“

Brian drückte mit seiner Pfote gehen meine Nase, als wäre sie einer dieser großen runden Not-Ausschalter von Industriemaschinen und sagte: „Weil er mir entschieden besser schmeckt, wenn ich ihn jemandem abgecrumbled habe.“

 

Es waren bereits einige Minuten vergangen und er hatte meinen Apple Pie schon lange verputzt, als ich fragte: „He, und was ist jetzt mit meiner Antwort?“

„Ach so, ja richtig, sie lautet: keine Ahnung.“

Ich schluckte meinen Ärger darüber, gelinkt worden zu sein, runter und verbalisierte, was schon seit Monaten in mir gärte: „Wenn ich zurück in Deutschland bin, mache ich mit meinem Kumpel Pit eine Suppenküche auf. Und wir nennen sie HouseMan’sCoast. Und es gibt nur regionale westfälische Rezepte von früher gepaart mit der amerikanischen Cajun-Küche. So richtiges Soulfood.“

Brian leckte sich die Pfoten sauber und sagte: „Über den Namen würde ich noch einmal nachdenken. Man kann dich nicht aus einer Band rausschmeißen, wenn sie nach dir benannt ist.“

Mit diesen Worten stand er auf, verschwand durch die Öffnung in der Wand, aus der er gekommen war und ruckelte den Holzbalken hinter sich wieder ins Gebälk.

„Wo ist er hin?“, rief ich der Army-Jacke zu.

„Ich weiß nicht, was sie meinen, Mister“, grinste dieser ein typisches Mittlerer Westen Grinsen. „Aber ich liebe Bayern München.“

 

6 Monate schon prangte unser Logo über unserem Ladenlokal am Ostenhellweg. Direkt daneben das Wortmonster „Christian Hütenhofs HouseMan’sCoast“, das ich Pit gegenüber durchgesetzt hatte. Wir waren der Szenetreff in Dortmund schlechthin geworden. Deutschlands Promi-Köche gingen bei uns ein und aus. Ein Tisch blieb immer frei. Darauf achtete ich peinlich genau. Pit respektierte meine Marotte ebenso wie die Antwort, dass der Platz für Brian Staff reserviert sei. Unter unseren Angestellten liefen Wetten, wer dieser ominöse Brian Staff wohl wäre. Aber ich tat einen Teufel, Licht in die Sache zu bringen.

Eines Abends, es war ein Dienstag und niemand mehr außer mir im Laden, saß ich noch über den Büchern, da mir einige Ungereimtheiten aufgefallen waren, die Pit mir nicht befriedigend hatte erklären können. Plötzlich vernahm ich ein Schaben. Mit einem Mal bröckelte Putz von der mir gegenüberliegenden Wand. Dann fiel erst ein Stein in den Raum, dann weitere, bis schließlich ein großes Loch entstanden war, durch das sich Brian zwängte. Er klopfte sich das Fell ab und marschierte schnurstracks auf den für ihn reservierten Platz zu. Mit einem Hieb fegte er das Gedeck vom Tisch.

„Du hast es nicht begriffen, oder?“, schrie er mich an.

„Begriffen? Was? Du hast mir doch durch die Blume gesagt, ich soll mein Ding ohne Rücksicht auf Verluste durchziehen.“

Brian schüttelte den Kopf. „Was du hier durchziehst, ist mein Ding!“

Die Wut schien ihm unbändige Kräfte zu verleihen. Er brach ein Bein von seinem Tisch ab, führte es wie einen Baseballschläger und hieb damit auf alles ein, was aus Glas oder Keramik war. Als er fertig war, glich das Ladenlokal einem Trümmerfeld, das er raffiniert durch das Loch in der Wand wieder verließ, während sich Steine und Putz hinter ihm wieder so zusammenfügten, als wäre dort nie eine Öffnung gewesen.

Als man mich am nächsten Tag in dem zertrümmerten Interieur vorfand, hörte ich sie von „Nervenzusammenbruch“ sprechen, und „dass er den plötzlichen Erfolg nicht verkraftet hätte“, „zu schnell groß geworden sei“.

Ich hätte die Sache mit einem Satz aufklären können, aber hätte mir jemand geglaubt, dass der Koala, dem ich alles verdankte, mir alles wieder genommen hatte?