Von Anne Zeisig

„Ihre Mutter fühlt sich sehr wohl bei uns in der Wohngruppe. Man muss den dementen Menschen das bieten, was sie ihr Leben lang getan haben. Der gewohnte Tagesablauf gibt Sicherheit, dadurch sind sie besonders ausgeglichen. Natürlich hat jeder Mensch gute und schlechte Tage.“ Sie legte die Akte auf den Schreibtisch. „Aber Ihre Mutter ist eine von den ruhigen, willigen Menschen.“

 

Helga war erleichtert, denn es war ihr sehr schwer gefallen, die Mutter hier unterzubringen, denn immerhin hatte diese fünfzig Jahre in ihrer Eigentumswohnung gelebt.

 

„Und sie fragt nicht nach ihrem alten Zuhause?“

 

„Nein! Warum auch? Der Tag beginnt damit, dass ihre Mutter unter Anleitung und sanfter Motivation die Betten macht, danach die Zimmer fegt und sich dann gemütlich mit einer Tasse Kaffee und einem kleinen Frühstück hinsetzt und versonnen in den Garten blickt.“

Die Pflegedienstleiterin machte eine kleine Pause. „Was uns noch nicht gefällt, ist ihr versteinerter Gesichtsausdruck.“ Sie lächelte. „Aber mit der Zeit wird die Mimik sicherlich weicher.“

 

Trotzdem. Das war wirklich ein Fortschritt. Denn seit dem Tod des Vaters, vor sechs Monaten, hatte Mutti in ihrer Wohnung nichts mehr gemacht. Keine Betten. Kein Staubwischen. Kein Staubsaugen. Hatte sich mittags mit einer Schnitte Brot und einem Kaffee begnügt, die Rollos blieben unten, damit der Regen die geputzten Scheiben nicht wieder beschmutzte. 

Ständig hatte sie das Lied „‘Das bisschen Haushalt macht sich von allein, sagt mein Mann … “, vor sich hin gesummt.

 

„Ich bin wirklich froh, dass meine Mutter wieder aktiv ihren Tag gestaltet“, teilte sie der Betreuerin mit.

 

Diese nickte. „Sie müssten mal sehen, wie emsig ihre Mutter abends Knöpfe an Nachthemden und Pyjamas näht, wenn wir sie dazu ermuntern.“

 

Das erstaunte Helga. „Wirklich? Früher hat sie mir mal erzählt, dass Flickarbeiten für sie ein Graus seien.“

 

„Umso besser, wenn sie es nun gerne tut.“ Sie sagte ihr, dass die Mutter im Garten sei und der Besuch bis siebzehn Uhr beschränkt werden solle, denn dann müssten die Brote für das Abendessen belegt werden.

„Ein strukturierter Tagesablauf ist für Ihre Mutter wichtig“, fügte sie an. „Machen Sie sich keine Sorgen. Wir wissen allzu gut, was für unsere Gäste sinnvoll ist.“

 

‘Gäste.’ Der Begriff gefiel der Tochter. Hatte was von Würde und war nicht so unpersönlich wie ‘Bewohner’.

 

* * *

 

„Mutti!“ Helga lief über die große Wiese zum Liegestuhl, auf dem ihre Mutter lag. Wie zerbrechlich sie geworden war. Die Kleidung hing an ihr hinunter, das Haar klebte stumpf auf dem Kopf. Sie trug wieder die beige Chiffonbluse wie vorgestern, und Helga sprach das sofort an.

 

„Mein Mann mochte es aber immer sehr, wenn ich dieses Oberteil trug. Außerdem habe ich mich nicht vollgekleckert.“ Hermine sah an sich hinab. „Kein Fleck zu sehen.“

Die alte Dame blinzelte in die Sonne. „Sind Sie neu hier?“  

 

Die Stimme der Mutter klang heute sehr klar und bestimmt. Nicht so leise und brüchig wie die Tage zuvor. Das freute Helga.

 

„Mutti! Ich bin es! Deine Tochter. Helga.“

 

Hermine kniff die Augenlider zusammen. „Habe meine Brille nicht auf, liegt im Zimmer.“

 

„Ich meine ja nur, dass du noch andere schöne Blusen im Schrank hast. Die altrosa zum Beispiel“, nahm Helga das Thema wieder auf.

 

„Die mit den vielen Knöpfen?“ Die alte Dame schüttelte energisch den Kopf. „Einmal irgendwo hängen bleiben und schon ist ein Knopf abgefallen.“

 

Das war das Stichwort: „Ich habe gehört, du nähst neuerdings gerne Knöpfe an. Na, das sind ja Neuigkeiten!“

 

Hermine stützte sich an den Lehnen des Liegestuhles ab und baute sich abrupt vor ihrer Tochter auf. Helga erschrak. 

 

“ Ich hasse es, Knöpfe anzunähen, ich hasse es, Butterbrote zu schmieren, ich hasse es abgrundtief, Kartoffeln zu schälen und mit dem Besen durch die Räume zu fegen“, nun tippte sie ihrer Tochter auf die Brust. „Um es kurz zu machen, ich hasse jegliche Art von Hausarbeit!“

Nun ließ sie sich auf die Liege fallen, um zu Atem zu kommen und hechelte: „Und ich mag es nicht, wenn man mich ungefragt duzt.“

 

Helga wusste überhaupt nicht, was sie sagen sollte. „Aber die Betreuerinnen“, sie zeigte hinüber zum Gebäude, „meinen, du machst das gerne. Und ich auch“, flüsterte sie, „weil das deinen Tagen Sinn gibt.“

 

Die alte Dame blickte ihre Tochter durchdringend an, dass es Helga Gänsehaut verursachte.

„Mein Mann war der Meinung, eine Frau mit Kind gehöre an den heimischen Herd und müsse den Haushalt führen“, Hermine stöhnte laut auf, „ich mache ihm keinen Vorwurf, er war sehr dominant, es war halt so.“ Nun tätschelte sie Helgas Hand. „Aber jetzt lebt er nicht mehr.“

 

Die Tochter blickte in das starre Gesicht ihrer Mutter: ‘Wo ist nur ihr warmherziges, gütiges Lächeln geblieben? Wann hat sie das eigentlich verloren?’, fragte sie sich.

 

Die Mutter ließ sich erschöpft auf die Liege fallen. „Wieviel D-Mark kostet der Urlaub in diesem drittklassigen Hotel eigentlich?“

 

Helga hauchte verdattert: „Urlaub? Tja. Also. Ungefähr dreitausend Euro.“ 

 

„Dafür kann ich erwarten, dass das Personal die Drecksarbeit macht.“ Sie strich ihr Haar glatt und lächelte Helga an. „Früher an der Ostsee war es billiger. Aber nun bringen Sie mich bitte zum Friseur und danach zur Maniküre. Dafür werden Sie schließlich von mir sehr gut bezahlt!“ Hermine legte beide Hände in ihren Schoß und ballte sie zur Faust: „Außerdem müssen Sie noch die Fenster von meinem Zimmer putzen!“ 

 

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