Von Jochen Ruscheweyh
Als Karsten Lochner die Naturheilpraxis von Clemens Marker betrat, rumorte eine Menge Wut in seinem Bauch und eine geladene Automatikpistole steckte hinten zwischen seinem Hosenbund und Rücken. Noch im Treppenhaus hatte er sich immer wieder dazu angehalten, Ruhe zu bewahren und den Pseudo-Mediziner sachlich, aber eindringlich darauf hinzuweisen, in welcher Lage er, Karsten Lochner, sich befand.
Seine Vorsätze hatten sich jedoch quasi in Nichts aufgelöst, als ihn, der die Corona Schutzmaßnahmen nicht nur für sinnvoll, sondern für geradezu essenziell hielt, wenn NRW, nein Deutschland, nein, die Menschheit, besser noch gesagt der Planet überleben wollte, als ihn Markers Sprechstundenhilfe nicht nur unmaskiert anschaute, sondern den am Computerarbeitsplatz aufgebauten Verpackungen nach zu urteilen, auch gerade noch im Begriff war, eine Fastfood-Mahlzeit einzunehmen.
Ihr im wahrsten Sinne des Wortes vollmundiges Sie können da jetzt nicht reingehen wischte er mit einer ausladenden Handbewegung, die die Luft wie ein Samurai Schwert eine den Fluss hinuntertreibende Lotusblüte zerschnitt, weg und hielt auf die Tür von Markers Sprechzimmer zu.
Es erstaunte Karsten nicht, wie hart die Tür gegen den Stopper schlug, hatte er doch eine ziemliche Intensität in den Tritt gelegt, der Marker zeigen sollte, dass Karsten zu Vielem, wenn nicht gar zu allem entschlossen war.
Marker selbst blickte – wie es Karsten vorkam – mit einer Mischung aus Verblüffung und aufkommender Unruhe von einigen Papieren auf dem Schreibtisch auf. Er rieb sich beide Augen, als handele es sich bei Karstens Eindringen um eine abseits der großen Wüsten irrtümlich auftretende Fata Morgana, die er durch mechanische Bearbeitung seiner beiden graugrünen Sinnesorgane dorthin zurück schicken konnte, wo sie eben nicht hergekommen war: in die Wüste.
„Herr Marker, äh, Herr Doktor, ich habe ihn aufhalten wollen, aber er ist einfach so …“
„Schon gut, Iris. Lassen Sie mich mit Herrn Lochner alleine. Er ist gerade emotional ein wenig instabil.“
Mit einem Griff, der einiges robuster war, als sich Katzenmütter ihre Jungen schnappen, ließ Karsten seine Hand hervorschnellen und packte Iris am Hals, während er seine Automatik aus dem Hosenbund riss.
Mit der eindringlichsten Stimme, zu der er fähig war, schrie er:
„Keiner verlässt diesen Raum!“
Eine Phrase, die er neulich in einem Film gehört hatte und die er für passend erachtete, ihm den entsprechenden Respekt zu verschaffen, den die Situation erforderte. Die Automatikpistole federte ein Stück von Iris Schläfe zurück, als er sie gegen ebendiese stieß, was er auf den Umstand zurückführte, dass ihr gesamtes Gesicht mit irgendeinem dieser neuartigen Füllstoffe unterspritzt, dementsprechend prall war und dem Aggregatzustand eines Flummis gleichkam.
„Herr Lochner, bitte beruhigen Sie sich, ich spreche jetzt nicht nur als Ihr Heilpraktiker, sondern auch als Ihr Freund zu Ihnen!“
Karsten überlegte einen Moment, wie er erst Iris und dann Marker fesseln konnte. Seinem Blitzbesuch in der Praxis hatte kein ausgearbeiteter Plan zu Grunde gelegen, sondern einfach nur die blanke Emotionalität. Daher hatte Karsten sich auch keine Gedanken gemacht, wie er die Situation kontrollieren könnte. Es wäre leicht gewesen, Iris aufzufordern, ihre Strumpfhose auszuziehen, diese in zwei Stücke zu reißen und damit erst sie und dann den Heilpraktiker zu fesseln.
Karsten verwarf diese Idee aber so schnell, wie sie ihm in den Kopf gekommen war. Denn wenn er schon Macht ausüben musste, dann nicht mit einem sexuellen Unterton. Stattdessen wandte er sich zu Marker und sagte:
„Na, fickst du sie?“
Das klang für einen objektiven Dritten zwar sicher nicht minder sexuell, aber so lag der Schwarze Peter zumindest bei Marker. Fand Karsten zumindest, der Heilpraktiker trug schließlich einen Ring.
Karsten fuhr sich durch die Haare und wartete einen Moment, bevor er anfügte: „Und jetzt beruhigen wir uns alle mal wieder.“
Ihm war klar, dass auch diese Formulierung keinen Sinn machte, aber schließlich war dies sein erster Amoklauf.
Überfall.
Nötigungsversuch.
Je nachdem, wie man es juristisch sehen wollte.
Ohne dass er sie dazu aufgefordert hätte, ging Iris zu Markers Schreibtisch hinüber, schob den Heilpraktiker mitsamt Bürostuhl so weit unter dem Möbel hervor, dass sie sich auf dessen Knie setzen konnte, was sie auch tat, dabei Marker umarmte und zu schluchzen begann:
„Ach, Clemens, ich habe dir das nie gesagt, aber ich fühle mich tatsächlich zu dir hingezogen, in jeglicher Hinsicht.“
„Verdammte Scheiße“, schrie Karsten, „es geht hier um mich, nicht um euer was auch immer ihr da habt!“
„Nicht jetzt!“, schob Marker Iris von seinem Schoß, die in Zeitlupe herunterglitt und wie ein dicker Botox-Käfer rückwärtig auf dem Boden zu liegen kam.
Obwohl auch das ein Klischee war, holte Karsten aus und schlug Marker mit dem Pistolengriff, jedoch nicht so, wie es in Hunderten von Kriminalromanen zu lesen war, gegen den Hinterkopf, sondern peilte den Oberarm des Heilpraktikers an. Letzterer gab ein kurzes Aua von sich und kauerte sich in seinem Bürostuhl zusammen.
„Habe ich Ihnen nicht geholfen?“, stöhnte Marker seinen Arm reibend.
„Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich wusste, dass Sie ein selbstgerechter Quacksalber sind und das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit genau das Gegenteil von dem passiert, was Sie dachten, was meine Intention wäre!“, antwortete Karsten. „Verdammt, ich wollte nie, dass Sie meine Persönlichkeitsstörung heilen, Sie sollten sie erhalten, weil sie mein Kapital ist.“
Markers Augen weiteten sich wie Zucchiniblüten in den ersten Morgenstunden, wenn der Tau auf ihnen liegt und die Sonne ihre gelbe Oberfläche wärmt. Karsten hatte nie ein Faible für botanische Bilder gehabt, aber in diesem Moment entstand genau diese Vision in seinem Unterbewusstsein.
Mit einem Rettungsgriff hievte er Iris hoch und setzte sie wie eine Kasperpuppe mit steifem Rückgrat auf Markers Tisch, wo sie genau in dieser Position sitzen blieb.
„Ich bin Schriftsteller und schreibe unter sechs Pseudonymen, und was ich unter diesen veröffentliche, ist das, was meine unterschiedlichen Persönlichkeiten zu Papier bringen. Was glauben Sie, warum es seit einem Jahr keinen neuen Gandalf-Grünberg-Roman gibt? Weil sich der dämliche Wichser einfach so aus meinem Kopf verabschiedet hat. Ich habe Vanessa Behrendorf verloren, genauso wie den kleinen Timmy Jamie, und Albert Astral. Mein Gott, ich habe Verträge zu erfüllen, und das einzige, was Sie hätten tun müssen, wäre gewesen, meine Gesundung zu verhindern, Sie blöder Idiot. Warum habe ich Ihnen nur so lange Kredit gegeben?“
In Marker kehrte wieder Leben zurück, seine Pupillen nahmen ihre ursprüngliche Größe an und Karsten konnte beobachten, wie sich sein Gegenüber langsam in seinem lächerlichen Bürostuhl aufrichtete.
„Herr Lochner, Sie werden es mir hoffentlich nicht übelnehmen, aber ich habe Sie nie für krank im pathologischen Sinne gehalten. Und auch wenn Sie meinen therapeutischen Background anzweifeln, so kann ich Ihnen doch sagen – und ich sage das mit meiner vollsten Überzeugung -, dass es um ihre geistige Gesundheit sehr gut bestellt ist. Für viele Persönlichkeitsstörungserkrankte wäre dieses Gespräch eine schallende Ohrfeige, denn sie leiden wirklich. Was Ihnen, Herr Marker, gerade widerfährt, ist das, was man im klassischen Sinne eine Schreibblockade nennt.“
„Das ist meiner Cousine neulich auch mal passiert, sie schreibt immer Kommentare in Celebrity-Foren aber da saß sie wie gelähmt vor ihrem Notebook und nichts ging mehr“, wusste die immer noch in derselben Position hockende Iris zu berichten. An ihrer Schläfe konnte Karsten noch den Abdruck seines Automatiklaufes erkennen.
„Ich finde, Sie machen sich das ganz schön einfach, Marker, dichten eine Verbesserung meines Gesundheitszustandes, die ich nicht gewollt habe, in eine intendierte Nicht-Heilung um. Das ist wirklich dreist.“
„Meine Güte, Lochner, warum können Sie nicht für sich annehmen, dass Sie ein besonders kreativer Mensch sind. Wenn Sie auf Ihre Persönlichkeitsstörung bestehen, dann bitte, hier, ich schenke Sie Ihnen. Aber wissen Sie was, Ihr Fall erinnert mich eher an das Charly-Hannover-Syndrom. Falls Sie schon einmal davon gehört haben. Es ist unter Schriftstellern sehr stark verbreitet und manifestiert sich darin, dass mit der Flut an Protagonisten die Subhirn-Substanz nicht mehr zwischen echter und imaginierter Kreativität unterscheiden kann.“ Karsten überlegte einen Moment, während er einen Flyer auf dem Schreibtisch entdeckte: Drosten lügt, sonst hätte Corona den Eichenprozessionsspinner getötet! Dann sagte er:
„Warum zum Teufel tragen Sie und Ihre Sprechstundengehilfin eigentlich keine Masken?“
„Lochner, lassen Sie das, das führt doch zu nichts.“
Karsten wandte seinen Blick von Marker ab und blickte in Iris überarbeitetes Gesicht, obwohl er wusste, dass er darin keine Antwort finden würde.
Das einzige, was er wirklich wusste, war, wenn es so weiterginge, dann würde irgendwann der Letzte in seinem Kopf das Licht ausmachen.
Sicher, es ängstigte ihn schon, seine Existenzgrundlage zu verlieren.
Was aber wäre, wenn am Schluss niemand übrigbliebe, sondern mit der letzten Persönlichkeit das Licht für immer ausginge?
An der Wand hinter Marker hingen Fotografien, die den Heilpraktiker mit einem Allradfahrzeug in einer Sandlandschaft zeigten. Daneben ein Beduine, mit teilverhülltem Gesicht.
Mit einem Mal war alles da in Karstens Kopf. Einem Strudel gleich wurde er in die Fotografie gesogen. Das letzte, was er dachte, war:
Okay, vier von sechs verloren, aber was gerade geschah, roch verdammt nach einem Orient-Bestseller.
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