Von Jochen Ruscheweyh

Der Schmerz schien Johannes das komplette Schienbein hochzukriechen. Beinahe, als wäre das Pochen, Ziehen, Kratzen und Hämmern ein pelziges Nagetier, das Krallen besaß, und sein Unterschenkel ein Baumstamm. Warum bauten sie diese dämlichen Einkaufswagen auch immer noch so, dass der untere Rahmen einem zwangsläufig die Knochen zerschießen musste?

Er zwang sich zu einem Lächeln, obwohl es keinen Grund dafür gab. Schließlich war er im Recht gewesen. Im Prinzip handelte es sich bei den Gängen in einem Supermarkt um etwas Ähnliches wie Straßen. Und wenn es keine Vorfahrtsschilder gab, dann galt immer noch Links vor Rechts. Er blickte grade soweit auf, dass er erkannte, dass die mit ihm kollidierende Person eine Frau sein musste.

„Hannes?“

 

Draußen gingen die Straßenlaternen an. Genauso, als hätte jemand einen Schalter umgelegt und die dreißig Jahre dazwischen ausgeknipst. Der Strom floss wieder und entlud sich wie ein Feuerwerk über sein vegetatives Nervensystem. Am liebsten wäre er auf die Behindertentoilette des Supermarktes gerannt. Stattdessen folgte er Tina wie der willenlose Zombie, der er damals gewesen war, zu einem der beiden Tische im angrenzenden Back-Shop.

 

Ihr Gesicht wirkte ein wenig runder. Aber in ihren Augen flackerte immer noch dieselbe Rastlosigkeit, die er früher schon so anziehend gefunden hatte.

Johannes hörte ihre Stimme, den Klang ihrer Worte, Crescendo und Decrescendo, Largo, Alegretto und Presto, so dramatisch wie eine Oper. Aber als sie eine Pause machte, wurde ihm klar, dass er nichts verstanden, ja nicht einmal versucht hatte, ihr zu folgen. Zu tief saß seine Angst, es würde alles von vorne beginnen.

Er war davon ausgegangen, dass die Wunde verheilt war, dass er seiner Seele eine Naht verpasst hatte, die selbst ein Sattelzug mit Seilwinde nicht im Stande war, zum Reißen zu bringen. Jetzt musste er einsehen, dass er sich getäuscht, in trügerischer Sicherheit gewähnt hatte.

 

„Halllllooo?“ winkte Tina vor seinem Gesicht, „sag mal, freust du dich nicht wenigstens ein klein bisschen, mich zu sehen?“

Ob er sich freute? Wenn er der Typ wäre, der er schon damals nicht gewesen war, wenn er nicht weiter als eine halbe Stunde im Voraus dächte, wenn ihm die Konsequenzen seiner Handlungen vollkommen gleich oder wenn er radioaktiv verstrahlt worden wäre und nur noch wenige Stunden zu leben hätte, dann wäre es ihm ein Leichtes, Freude zu zeigen.

„Ich find‘s super“, presste Johannes heraus und rief dasselbe Lächeln ab, was er bereits einige Minuten zuvor bei ihrem Einkaufswagen-Crash gezeigt hatte.

 

Der Kaffee kam, zwei Tassen, schwarz und ohne Crema, auf einem zusätzlichen Tablett Milch und lieblos arrangiertes krümeliges Gebäck aus einer Großpackung.

„Für den Magen“, betonte Johannes, als er sich seine Notfall-Perculaminol aus seiner Jackentasche fingerte.

„Damit hattest du schon immer Probleme, ich erinnere mich.“

Ihr Hinweis hätte ihm normalerweise einen Stich in der Bauchgegend versetzt, aber die auf seiner Zunge zerfallende Perculaminol ließ seine Haut gefühlt auf mindestens zwei Zentimeter Dicke anwachsen.

„Was hast du denn so getrieben, die ganzen Jahre?“

Versucht, dich zu vergessen, wäre die ehrliche Antwort gewesen. Stattdessen ertappte er sich dabei, dass er aus einer Biografie erzählte, die nicht seine zu sein schien, die sich absurd und so unpassend wie ein zu weiter Pullover anfühlte. Selbst seine kurzen Beziehungsversuche mit Marion und Carolin wirkten clean, ästhetisch und wie gewollt im Kontext eines Lebensweges, der zu jemand anderem gehören musste.

„Wow, Rom, Zürich, Barcelona, da bist du ja ganz schön rumgekommen. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass mehr in dir steckt.“

„Mehr als was?“, antwortete er, da es ihm nicht gelang, den Reflex zu unterdrücken.

„Mehr als in Tom“, sagte Tina leise und drehte wie geistesabwesend einen Ring, der vielleicht früher mal an ihrem Finger gesteckt hatte.

 

Johannes parkte seinen Saab auf dem Randstreifen. Tina schloss die Tür zum Treppenhaus auf und zog ihn hinein. Als Johannes den Lichtschalter betätigen wollte, hörte er Tinas leises „Nein“.

Ihre Hand streichelte seine Wange, öffnete seinen Mantel ein Stück. „Du riechst so gut.“

Aus einem unterbewussten Zwang heraus – anders konnte er es sich nicht erklären – hob er die Hände. „Tina, Tom ist mein Freund gewesen, wie soll ich ihm gegenübertreten, wenn …?“

Er spürte ihr Gesicht jetzt ganz nah an seinem.

„Hannes, Tom hatte einen Unfall, er ist nicht mehr der Tom, den du von früher kennst. Und jetzt komm!“

 

Sie führte ihn in die Wohnung, streifte seinen Mantel komplett ab und schob ihre Hand unter sein Hemd. Seine Augen begannen sich an das spärliche Licht zu gewöhnen. Einen Moment lang schoss die Angst wieder in ihm hoch. Wohin führte das hier? Und was wäre die Konsequenz? Tom war nie sein Freund gewesen, sondern einfach nur schneller. Tom hätte und hatte alles getan, Tina für sich zu gewinnen, Johannes seinerseits sich damit abgefunden, als ewiger Zweiter durchs Leben zu gehen.

Während ihre Zunge ihn zu einer Reaktion herausforderte, erkannte er die Silhouette eines Mannes im Rollstuhl am Fenster. Gegen das wenige Licht, das durch die Jalousien in den Raum fiel, wirkte der Kopf des Mannes weder rund noch eiförmig, sondern wie eine Frucht aus der ein Abschnitt herausgenommen worden war.

„Ist das Tom?“

„Ja, aber er lebt in seiner eigenen Welt auf dem geistigen Stand eines Dreijährigen. Hilf mir mal mit dem Gürtel.“

 

Tina fühlte sich fantastisch an und gleichzeitig so anders, als er es sich immer vorgestellt hatte, seit er fünfzehn war. Als sie sich auf ihn schob, überlegte Johannes, wie es wohl ohne die dämpfende Wirkung der Perculaminol sein würde. Vielleicht wären seine Synapsen gar nicht im Stande, diesen Input auszuhalten. Vielleicht würde er einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall bekommen.

Tina vergrub ihre Hände in seinen, saß nunmehr auf ihm, führte seine Arme neben seinem Kopf entlang und beugte sich über ihn, als einer seiner Handrücken gegen etwas Hartes stieß. Licht von einem Deckenfluter erhellte den Raum. Tina schrie auf, begann dann zu schluchzen. Instinktiv schaute Johannes hinüber. Obwohl ihm Speichel das Kinn hinunterrann und ein Teil seines Schädels deformiert war, starrte ihn Tom mit demselben überheblichen Blick an, wie er es schon immer getan hatte, die Hände zu Fäusten geballt, in deren Mitte je eine gerollte Mullbinde steckte.

„Geh!“, schluchzte Tina.

„Es tut mir so leid.“

„Geh einfach, habe ich gesagt.“

 

Unten im Saab holte Johannes eine zusätzliche Perculaminol hervor, zerkaute sie und tat dasselbe mit zwei weiteren. Dann startete er den Wagen. Wenn er die Nacht durchfuhr, konnte er morgen in Paris sein. Seiner Biografie ein letztes Puzzlestück hinzufügen.

Tom hatte einen Unfall.

Tom lebt in seiner eigenen Welt.

Unterschied ihn irgendetwas von Tom?