Von Kornelia Wulf

Er ruckelt sich auf dem Plastikstuhl zusammen, legt eine Kladde auf die Tischplatte. Wie es mir geht, hat er gerade gefragt, und ob ich vielleicht etwas brauche. Ein stummes Nein, ich schüttele den Kopf. Eine Freundin habe alles Notwendige zusammengepackt. Und wie es mir geht? Vorsichtig horche ich in mich hinein. Missachte den Vorsatz nichts mehr zu spüren, erst gestern gefasst, nachdem sie mich hierhergebracht hatten. Doch aus den Tiefen tönt nur ein dumpfes Plätschern herauf. Ein schmieriger Film trübe die Sicht, meldet mir die Innenschau, wie Schlieren auf einem Aquariumwasser, in dem die Fischbäuche oben treiben. Unter halbgesenkten Lidern spähe ich zu ihm hinüber. Seine Hände liegen entspannt auf der Anzughose. Die Finger verschränkt, Daumen an Daumen, formen sie sich zu einer Höhle aus Haut.

Und als würde ich mein Schicksal in sie legen, spüre ich, wie die Worte fließen. 

„Der Tag wird hier lang, ohne Laptop, ohne Handy. Selbst mein Buch – ich schlug gerade Seite dreizehn auf – durfte ich nicht mitnehmen, als sie mich abholten. Ewig dein. Vielleicht kennen Sie das, nein?“

Vor meiner Tür ein nerviges Räuspern, das Knatschen unzähliger Sneakersohlen, die über stumpfem Fußboden schleifen. Meine Stirn wirft Falten zwischen den Brauen. Vergeblich versuche ich den Zorn glattzustreichen, alles Störende auszublenden. So viele Geräusche. Regen mich auf. Als hätten sie sich gegen mich verschworen. Dann dieses lästige Scheppern und Klappern. In der Kantine füllen sie gerade die Teller. Erst halb Zwölf auf meiner Uhr. Hier isst man früh. Gleich werden sie mir mein Mahl persönlich bringen, wie beim Premiumzimmerservice, in mein Achtquadratmeterreich, auf einem Blechtablett. Schon in der Früh setzte der Geruch sich in den Luftwegen fest – Eintopf mit Bockwurst, in Maggi ertränkt –, der von der Küche herüberschwebte, als sie mich aus der Zelle holten. Im Niesel durfte ich über graues Pflaster stapfen. Hin und her über den Hof von hohen Mauern eingesperrt, auf dem nur ein schwächlicher Krüppelbaum wächst. Ganz anders als der, der mir nachts seine Äste entgegen streckt … 

Wohin wandern nur meine Gedanken. Ich darf mich jetzt nicht ablenken lassen, höre ihn schon unwillig atmen.

„Aber die Abstinenz von Facebook und Trallala hat auch was Gutes. Endlich bin ich wieder zum Nachdenken gekommen, habe etwas Abstand gewonnen. Wenn da nicht diese Nächte wären. Das ewige Zählen, während die Schäfchen schon kräftig schnarchen, bevor ich einnicke, völlig erschöpft wieder aufschrecke. Und dann dieser Traum. Der hat mich bis hierhin verfolgt. Der lässt sich nicht einsperren.“

Vorsichtig hebt er die linke Braue. Fast nur ein Schein, ein paar Millimeter. Nagel an Nagel ruhen nun die Daumen und der Eingang der Höhle öffnet sich weiter.

Was für ein Traum, höre ich ihn fragen und fühle wie meine Lider unkontrolliert flattern. 

„Unter mir breitet sich Kälte aus. Als beiße sie sich durch T-Shirt und Jeans, zerreiße die Wäsche mit eisigen Zähnen. Ich weiß, das klingt seltsam,“ scheu huscht mein Blick zu ihm hinüber, „aber ich schwöre, so fühlt es sich an, feucht, klamm, und ich spüre, wie sich alle Härchen aufstellen. Die Wange auf eine Moosschicht gepresst, vom Morgentau dick und weich getränkt, sehe ich schwarze Beinchen krabbeln. Acht Ameisen unter einem verrotteten Buchenblatt schultern ihre Last wie einen Sarg. Alle gemeinsam. Und plötzlich fühle ich mich grenzenlos einsam. Langsam den Kopf zur Mitte drehend, bis mein Kinn im Moos versinkt, spür ich in den Waden ein stechendes Kribbeln. Bloß nicht aufrichten. Auf keinen Fall. Haltung bewahren. Auf den kalten Waldbodennadeln. Denn er ist hier. Direkt hinter mir. Schleicht professionell. Im wabernden Dunkel des Unterholzes. Windet sich durch Tannen und Buchenzweige, Stecknadel leise. Entzieht sich dem Blick wie ein hohlwangiger Geist. Aber sein Atem rauscht durch die Blätter. Die Muskeln gespannt wie eine Trommel stemmt er die Lunge gegen den Brustkorb. Von Bongofingern zart gestreichelt entströmt seinem Mund ein heißer Lufthauch, in dem alle Flügel zu Stein erstarren. Ein lauter Platsch. Amselaugen kreisen klagend, bevor sie zersplittern auf einem Ast. Und alle Würmchen kriechen tiefer in Mutter Erdes Bauch. Ich reiße beide Augen auf. Nur Farne, Gräser, Brombeerstrauch auf dieser Lichtung, unendlich weit, die sich vor mir wie der halbe Erdball ausbreitet. Verzweifelt suche ich nach einem Pfad. In diesem Wildwuchs ohne Kontur. Denn sein Geruch kommt mir ganz nah.“

Meine Worte klängen vage, höre ich ihn sagen. Er käme sich schon vor wie dieser Jäger, der mich im Nebel des Traumes verfolge. Wie es genau riecht, will er wissen, was da aus seinen Poren dringt.

„Mmh. Süßlich, streng? Wie tropfendes Hirschfleisch, kurz nach dem Ausweiden, bevor man es am Haken abhängt? Vielleicht kennen Sie den Duft, nein?

Auf meinem Rücken klebt die Kälte. Wirbel für Wirbel spüre ich Schweiß, der feucht über meine Rippen rinnt. Der Kiefer mutiert zur Eisenfalle. Ich versuche die Zähne am Klappern zu hindern, als dieser Baum vor mir erscheint. Oder nur ein Trugbild, das in tausend Pixel zerfließt, wenn ich mich dränge an den Stamm, hinter dem sich ein Mammut verstecken kann?

Über knorrige Wurzeln robbend, bleibt mein Fuß im Dornengestrüpp hängen. Ich schluchze auf, als ich auf meine Blutspur schaue. Wie die armen Ameisen um ihr Leben kraulen. Die Krone des Riesen wirft ihren Schatten. Nagelspitzen splittern, während ich mich in der Borke festkralle. Befreit sinke ich hinab hinter dem Stamm, als etwas klopft. Eine Kastanie, auf meinem Kopf? Bis mein Blick das Grauen erfasst. Kein einziges Blatt an diesem Baum. An jedem Zweig. Wachsen. Augen. Bevor ich versuche die Lider zu schließen, erscheint eine weiße Leinwand vor mir. Von hoch aus den Wolken rollt sie sich ab. Die schickt mir der Himmel, denke ich noch, als sich der Stoff bedrohlich wölbt. Eine glitzernde Schneide dringt durch die Fasern. Blutverschmiert bis zum Griff.“

Seine Finger reiben über die Hosennaht, als wische er gerade Unrat ab, verschränkt sie dann locker zu einer Schale.

„Hm, interessant. Messerspitze sticht Leinwand. Vielleicht sehen Sie einen Zusammenhang mit Ihrer Anklage, nein? Also, kommen wir zur Sache.“

Den Kopf gebeugt blättert er in der Kladde.

„Wie hat alles angefangen mit dem Herrn Anders?“

„Eigentlich ganz harmlos. Ich traf ihn vor drei Monaten auf Lauras Party. Im Garten umfächelt von lauer Luft haben wir ein Glas Prosecco getrunken. Beim Tanzen sind wir uns nähergekommen, obwohl ich versuchte Abstand zu halten, weil sein Körper mich nicht zum Schwingen brachte. Oje, den hätten sie sehen sollen. So steif. So unbeholfen. Er hat er mich dann bis zur Haustür begleitet, schier unmöglich, ihn abzuweisen, dabei einen Haufen Unsinn gequasselt. An zarten Frauen klebe das Dunkel der Nacht und sowas. Bevor ich in tiefen Schlaf versank, klang ein leises Lachen in mir nach. Das setzte sich fest in meinem Rachen, als ich mit Laura und in meinem Wohnzimmer saß, am nächsten Tag und beinahe den heißen Kaffee ausspuckte, weil ich mich an ihren Worten verschluckte. 

„Hey, da draußen wartet dein Fan!“ 

Und ich starrte in Pupillen, grau verschwommen, die sich an der klaren Scheibe festsaugten. 

„Ignorier ihn doch einfach“, sagte Laura.

Und ich befahl mir, sie aus meinem Blickfeld zu bannen, diese klebrigen Augen, die mich verfolgten. Zur Post, zum Arzt, zum Supermarkt. Die einen Wirkstoff zu produzieren schienen, der unter der Haut ein Jucken erzeugte, kratzfest und nicht abwaschbar. 

Es liegt an mir, habe ich gedacht. Vielleicht nur ein Blick, ein falsches Signal, was ihn zu meinem Follower machte. Dass es mir leidtäte, habe ich gesagt, als sein Blick mich zwischen Mohn – und Milchbrötchen traf. Der spiegelte sich beim Bäcker im Thekenglas. 

Am Tag darauf rebellierte mein Bauch, während ich vorsichtig durch die Kanten der Vorhänge schaute. Wild rieb ich den Schlaf aus meinen Augen, konnte es kaum glauben. Zwei Luftballons stiegen vor meinem Fenster auf. An den Bändern silberne Herzchen, die sich im Morgenwind vereinten. 

Danach warf ich mir diese Pillen ein. Um nach traumlosem Schlaf wieder aufzuwachen, schwer wie ein Stein. Im Büro habe ich wichtige Akten vertauscht, als sie im Fenster auftauchten, seine Saugnapfaugen, die mich fast bis zum WC verfolgten. 

Dann hab´ ich ihn nur noch angeschrien. 

Hau endlich ab aus meinem Leben!

Am nächsten Morgen. Das Resultat. Gebannt starrte ich auf das winzige Päckchen in meinem Briefkasten. Ließ es gleich fallen, als habe ich mir an ihm die Finger verbrannt.

Zwei goldene Ringe auf blauem Samt, unsere Initialen eingraviert.“ 

Schweratmend starr ich auf seine Daumen. In Zeitlupe kreisen sie umeinander, als sagten sie, sprich endlich weiter.

„An diesem schwülheißen Sommertag hat er dann alle Schranken durchbrochen. Vielleicht erinnern Sie sich an den, nein? 

Nun, die Meteorologen hatten vor ihm gewarnt. Ich wälzte mich auf der Matratze schwer wie ein Schwamm. Slip und Hemd klebten am Körper. Alles fühlte sich feucht an in dieser Nacht. Ich weiß nicht, wie es passieren konnte. Im Halbschlaf muss ich die Terassentür auf Kipp gestellt haben. Mit Traumfetzen kämpfend riss ich die Lider auf. Auf mir hafteten seine Augen, gefährlich glänzend im Halbmondschein. Seine Kuppe fuhr sanft über schweißige Haut. 

„Hey“, raunte er, „du willst es doch auch.“

Meine Hand landete auf dem spitzen Öffner, fast ein Museumsstück, von meinem Opa, der neben mir auf dem Nachtschrank lag. Mit dem schlitz ich all meine Briefe auf. Ich hörte den Umschlag unter den Fingern knistern. Das Angebot für die Alarmanlage, heiß erwartet. Sehe noch die glitzernde Spitze schweben, spür noch den Arm, der weit ausholte. Alles andere liegt im Dunkeln.“

„Gestern kam das Schreiben der Klinik an.“ 

Kurz stelle ich das Atmen ein, will keine einzige Silbe verpassen.

„Nur eine Hautwunde an seiner Schläfe. Beide Augäpfel blieben unverletzt. Ein klarer Fall. Wir plädieren auf Notwehr.“

Er nimmt meine Hand in seine Höhle.

„Halten Sie durch, ich hol Sie hier raus.“

 

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