Von Marianne Apfelstedt

 

In der japanischen Provinz Fukushima erwachte der Tag mit wolkenlosem Himmel. Kein Lufthauch wirbelte die Blätter durcheinander und es versprach, ein ruhiger Tag zu werden. Sachiko räkelte sich im warmen Bett wie eine Katze. Warum hat mich Mama nicht geweckt? Schnell zog sie sich an. Erst die Unterwäsche mit den rosa Blümchen, dann die Kniestrümpfe und die blaue Schuluniform. Beim Verlassen des Zimmers fiel es ihr wieder ein, heute war schulfrei. In Windeseile entledigte sie sich der Uniform, legte sie zusammengefaltet auf den Stuhl, und schlüpfte in ihre Lieblingsjeans und das Shirt mit den Schmetterlingen. Ob Mama schon fort ist? Schnell lief sie in die kleine Küche. Auf dem Tisch lag der gelbe Notizblock, sie las die Nachricht in Mamas geschwungener Schrift.

 

Ich bin schon im Krankenhaus, es sind wieder viele verletzte Menschen aus dem Erdbebengebiet angekommen. Sie brauchen mich dort. Frühstück steht im Kühlschrank. Frau Kikou wartet auf dich. Bitte bleib bei ihr, bis ich dich abholen komme. Bis zum Abend, mein kleiner Drache, ein dicker Kuss. Mama

 

Sachiko holte sich die Misosuppe und den Reis aus dem Kühlschrank, füllte sich eine Portion in eine Schüssel und stellte sie in die Mikrowelle. Papas Schildmütze lag auf dem Schränkchen. Sachiko wusste, Papa arbeitete in Fukushima-Daiichi, im Kraftwerk. Von dort kam der Strom für den Kühlschrank und das Radio. Jetzt gab es manchmal keinen Strom mehr.

 

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Vier Wochen zuvor, 11. März 2011

Der Wecker fiel vom Tisch und sie schlüpfte mit Mama unter den großen Tisch in der Küche. Eng aneinander gekuschelt warteten sie, bis das Haus wieder stillstand. Sie kleideten sich an und packten alles, was lose war, in Schubladen und Kästchen. Zogen die Stecker an den Geräten heraus und gingen nach unten, in die Wohnung des Hausmeisters, um zusammen mit den Nachbarn, die ein Kofferradio ohne Kabel hatten, Neuigkeiten zu erfahren. Die Alten saßen auf Stühlen und dem Sofa, die Kinder hockten auf dem Boden und die Erwachsenen blieben stehen. Alle hörten gebannt zu, als der Mann im Radio vom Kraftwerk erzählte. Mama setzte sich zu ihr auf den Fußboden, zog sie auf ihren Schoß und drückte sie fest an sich. Es gab schon oft Wackeltage. Sie wusste, mit ihren sieben Jahren, dass es Erdbeben waren. Doch Wackeltage klangen nicht so unheimlich. An diesen Tagen gab es eigene Regeln. Kerzen wurden nicht angezündet. Sachiko wurde verboten, alleine das Haus zu verlassen, und die Schule blieb geschlossen.

 

Von der großen Flut hatten sie im Radio gehört. Tante Nanami rief einige Tage später an, damit sich Mama nicht sorgte. Opa Ziuto und Nanami fuhren von zu Hause weg, bevor das Wasser ihr Wohnzimmer überschwemmte. Mit dem Tsunami kam das Wasser in alle Häuser im Dorf an der Küste. Die Tante erzählte, dass sie jetzt in einer großen Turnhalle mit vielen fremden Menschen zusammen wohnten.

 

Mama hatte ihr erklärt, dass Papa in nächster Zeit nicht nach Hause kommen würde. Er arbeitete immer einen Monat im Kraftwerk, dann besuchte er seine Familie für sieben Tage, bevor er zurück zur Arbeit fuhr. Sachiko malte ein Bild für Papa, einen Regenbogen, auf dem ein Drache herunterrutschte, das war ihr Willkommensgeschenk,  sie legte es zu seiner Mütze. An den Wackeltagen war alles durcheinandergeraten. Darum arbeitete Papa schon viel länger. Er reparierte Teile am kaputten Kraftwerk. Mama sagte Papa und die anderen Männer und Frauen, die aufräumten und instand setzten, sind genauso große Helden, wie Yorimasa, der Held aus ihrem Lieblingsbuch.

 

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Sachiko öffnete das Fenster und schickte Papa ein Küsschen. Sie schloss es wieder, packte ihren Schmusedrachen ein und trat hinaus auf den Flur. Im 17. Stockwerk klingelte sie bei Frau Kikou. Sachiko besuchte sie sehr gerne, weil sie so viele Märchen von Drachen erzählte und Sachiko liebte Drachen.

 

 

© Marianne Apfelstedt, Version 2 / 3854