Von Siegfried Reitzig
Roswitha sieht ihre heutigen Termine durch. Die meisten betreffen die wöchentlich wiederkehrenden Therapiegespräche, in der Regel Einzelsitzungen. Nur manchmal ist die Begleitung durch einen Justizvollzugsbeamten notwendig, wenn nämlich der Patient als gefährlich gilt – diese Termine sind im Kalender rot gestreift, denn bei ihnen ist eine besondere Sorgfalt und Vorbereitung notwendig.
Der Arbeitsplatz von Roswitha ist die örtliche Klinik für forensische Psychiatrie und sie arbeitet eigentlich gern hier, seit mittlerweile über 20 Jahren.
Heute findet die Psychotherapeutin nur einen rot gestreiften Eintrag in der Liste, und das ist gut so, denn auch nach vielen Jahren hat sie immer noch Angst vor diesen Begegnungen, bei denen sie schon mehr als einmal in echte Gefahr geraten war.
Der „Froschmann“ wird kommen, ein Patient, der sich schon über ein Jahr in der Klinik befindet und dem bei der damaligen Gerichtsverhandlung ein grausamer Mord an einem Politiker nachgewiesen wurde – es gab etliche Zeugen und ein Zweifel an seiner bestialischen Tat war ausgeschlossen.
Trotzdem wurde er nicht zu einer Strafe verurteilt, sondern nach §63 StGB als schuldunfähig in die Forensische Psychiatrie eingewiesen.
Der Mann, dessen wahren Namen die Polizei nicht herausfinden konnte, hatte sich bei einer Wahlkampfveranstaltung plötzlich eine Froschmaske aufgesetzt und den auftretenden Bundesfinanzminister mit einem Salzsäurebeutel beworfen und anschließend in den Kopf geschossen.
Weder bei seiner Festnahme, noch während der Untersuchungshaft und auch bei der anschließenden Gerichtsverhandlung sprach er auch nur ein einziges Wort und gab stattdessen nur froschähnliche Laute von sich. So nannte man ihn nur noch den „Froschmann“ und das blieb auch in der Psychiatrie so.
Roswitha trifft diesen Patienten einmal in der Woche und hat die Aufgabe, ein Gutachten über seine mögliche weiterbestehende Gefährlichkeit für die Allgemeinheit zu erstellen und zu beurteilen, ob völlige Schuldunfähigkeit wegen seiner offensichtlichen psychischen Erkrankung vorliegt.
Sie findet diesen Mann unheimlich und weil bisher niemand mit ihm Kontakt aufnehmen konnte, wird er auch heute von einem bewaffneten Vollzugsbeamten begleitet – sicher ist sicher.
„Guten Morgen, Herr Woch, bitte nehmen sie doch Platz.“
„Krrroak“, der Froschmann setzt sich Roswitha gegenüber und sieht sie ausdruckslos an.
„Krrrrroooak“, seine kehligen Froschlaute wirken auf sie unheimlich und bedrohlich, sie erzeugen Angst und Kälte – Roswitha zittert innerlich.
Der Vollzugsbeamte stellt sich derweil an die Tür, was üblich ist, um einen möglichen Fluchtversuch sofort verhindern zu können. Gleichzeitig hat der Beamte Patient und Therapeutin immer im Blick und kann bei einer gefährlichen Eskalation eingreifen.
„Heute möchte ich mit ihnen über die Aufstellung sprechen, die sie in den letzten Sitzungen angefertigt haben, Herr Woch.“
Nach ihrer tapferen Eröffnung stellt Roswitha die Holzkiste auf den Tisch, in der sich ein Ensemble mehrerer Figuren aus Knetmasse befindet, die der Froschmann im Lauf der letzten Wochen hergestellt hat – es handelt sich um drei Frösche, erstaunlich gut und ausdrucksvoll gearbeitet und bunt angemalt:
Ein stehender Frosch mit einem Hut und einem umgehängten Fernglas zielt mit seinem Gewehr auf einen alten Frosch mit Brille, der sich auf einen Rollator stützt, an dem ein leerer Kasten mit der Aufschrift „Rente“ angebracht ist. Der Kasten ist leer.
Im Vordergrund steht eine Krankenschwester, die mit einer Fingergeste möglicherweise jemanden bittet, dazuzukommen oder einzutreten.
Roswitha ist stolz auf ihre Idee mit der Aufstellung und hofft sehr, dass auf diese Weise eine Kommunikation mit dem Froschmann zustande kommen kann, denn eine Unterhaltung mit ihm war ja bisher ausgeschlossen, von einem Gespräch konnte keine Rede sein.
„Mein Vorschlag für heute ist, dass ich ihnen erzähle, wie ich ihr Bild verstehe, und sie nicken, wenn meine Interpretation richtig ist und sie schütteln den Kopf, wenn ich falsch liege.“
„Krrrök, krrrök, krrrrröök“, der Froschmann schüttelt energisch den Kopf und Roswitha glaubt, ihren Ohren nicht zu trauen, als er mit rauer, knarziger Stimme weiterspricht:
„Drrrasss kannst du dierrr spoaarren! Irrrch chrrab mierrr die Müühre gemachhht, eurrre Sporrrake zu loarrrnen. Irrrch heissse üürrrbrigenss nierrrcht Woorrch!!“
Roswitha hatte ihren Patienten bisher mit dem Arbeitsnamen Herr Woch angesprochen, weil ihre kleine Tochter einen Frosch immer Woch nennt – das war wohl doch respektlos …
„Entschuldigung, Herr Woch – oh, wie dumm – wie darf ich sie denn ansprechen?“
„Krrroak, moarrrn Narrrme trruuat hierrr nirrrchtsss zuarrr Soarrrche.“
Und verschwörerisch fügt er hinzu:
„Wiarrr sssind voielle!“
„Natürlich, mein Herr. Mögen sie mir bitte erzählen, wen die Figuren darstellen, die sie aufgestellt haben?“
„Die Krrroankenschwesterr bist natüarrrlich du“, der Froschmann grinst Rositha unverschämt ins Gesicht.
„Du rruafst mich darrzu, doarrrmit ich es dierrr erkloärrren kann …“
„Aha – und stellen die anderen … äh … Frösche dar, was sie getan haben?“
„Nrrroaeiin – doarrrs wiarrrd oalss noarrrchstes proasssieren …
einerroak voarrrn uarrns wiarrd den Oarrrbeitsminister errroaschießen weil doarr die Rrroante nicht mehoarr zoahlen koann – wiarrr sssind voielle!“
„Das wäre ja furchtbar!“, Roswitha wird das Gespräch immer unheimlicher und sie ist heilfroh, dass sie nicht mit dem Froschmann allein ist. Sie ist sehr aufgeregt und ihre Stimme überschlägt sich
„Bi … Bitte helfen sie mir, die … diesen Mord zu verhindern! Wann und wo soll denn der Arbeitsmini … minister er … erschossen werden?“
„Drrroass musst du nicht wissen – du siehst mich heute drroas letzte Moal.“
Der Froschmann lacht hässlich und erhebt sich drohend.
Roswitha springt ebenfalls auf und macht einen Schritt in Richtung Tür.
Das, was sich hier anbahnt, kann sie nicht mehr kontrollieren, höchste Zeit, dass der bewaffnete Aufpasser in Aktion tritt und ihr beisteht!
„Bitte helfen sie mir – der Patient versucht zu fliehen!“ ruft sie verzweifelt, und blickt entsetzt in den Lauf der Dienstpistole, die der vermeintliche Justizbeamte auf ihren Kopf gerichtet hat.
Warum war ihr nicht früher aufgefallen, dass sie diesen Beamten nie zuvor gesehen hat und dass er die gleichen grünen Handschuhe trägt, wie der Froschmann – Handschuhe mit Schwimmhäuten?!
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