Von Gabriele Thybaldt

Er warf die Ofentür zu und wischte sich mit dem Arm den Schweiß aus dem Gesicht. Zu warm. Es war viel zu warm in der Stube, wie immer, wie jeden Abend, warm und stickig, die schweren Fenstervorhänge fest zugezogen, einmal hatte er versucht, das Fenster zu öffnen, als die Hitze ihm unerträglich wurde, aber Gerda hatte ihn zurückgehalten, erschrocken: „Das Kleine könnte sich erkälten!“

 

  Das Kleine war seine Tochter. An deren Existenz er sich noch nicht wirklich gewöhnt hatte. Rosalind hatten Gerda und die Großmutter sie genannt, weil sie im Rosenmonat geboren war, wenn die Rosen in ihrem Gärtchen auf dem Dach blühten, die verdammten Rosen. Machten ihm Kopfschmerzen, wenn er oben saß und die Sonne auf ihn herunterbrannte, zu warm, zu heiß, und der Geruch, der ihm Kopfschmerzen machte, und den Gerda liebte, ihr geliebter Rosenduft, ihre geliebten Rosen, ihre geliebte Rosalind…ihn ließ das Gewese um das Kleine kalt. Das war Weibersache.

 

  Er ließ sich in den Sessel fallen, der in der dunkelsten Ecke und am weitesten vom Ofen entfernt stand, wischte sich noch einmal über’s Gesicht. Und in seinem Kopf fingen die Wenn-Sätze an zu wieseln.Wenn er einfach dageblieben wäre. Wenn er Gerda einfach fortgeschickt hätte. Wenn er sie gar nicht zur Kenntnis genommen hätte, schnaufend in ihren weißen Atemwolken, die sie Engel nannte, wenn er einfach dageblieben wäre, bei Ihr, in Ihrem Eisreich, wo es keine Hitze gab, keine Wärme, keinen Dunst und keinen Nebel, nur trockene, klare, schneidende Eiseskälte. Klar und schneidend wie ein logischer Gedankengang, eiskalt und nüchtern. Er stöhnte, zerrte am Kragen von seinem Hemd.

 

  Sie hatte ihn überrumpelt. Gerda hatte ihn einfach überrumpelt, mit ihren Tränen, dem Geschluchze, den feuchten Küssen, und ihrem Kai-kleiner-Kai-Geschrei. Er hatte nicht mit ihr gerechnet, natürlich nicht, hatte sie eigentlich schon vergessen, es gab Anderes, Besseres, Wichtigeres in Ihrem Reich als kleine Mädchen und Dachgärten und Rosen. Er schnaubte als hätte er den Geruch vom Sommer immer noch in der Nase.

 

  Dann die Großmutter. Überglücklich war sie gewesen, dass sie ‚ihren Jungen‘ endlich wieder hatte. Endlich. Er wusste nicht einmal, wie lange er bei Ihr gewesen war, und darüber wurde auch nie gesprochen, er wusste nur, dass sich vieles verändert hatte, dass Gerda auf einmal nicht mehr seine Nennschwester war, dass sie erwachsen geworden waren, dass es selbstverständlich war, dass er Gerda zur Frau nahm, und jetzt war das Kleine da. Die Ausgeburt von Sommer und Rosen und Liebe. Sie sprachen dauernd von Liebe, Gerda und die Großmutter. Einmal hatte er gefragt, da war er noch der kleine Kai, was das ist, Liebe, und sie hatten ihn ausgelacht: „Das weiß doch jeder!“ Er hatte es nicht gewusst, und das war anscheinend nicht in der Ordnung. Eine Erklärung hatte es nicht gegeben, nur verständnisloses Gelächter.

 

  Bei Ihr gab es keine Liebe. Er war sicher, Sie wusste auch nicht, was das war. Und was Sie nicht wusste war nicht wert, gewusst zu werden. In Ihrem Reich gab es nichts Unerklärliches, nichts, was einem die Gedanken vernebelte, einem den Kopf heiss machte. Mit Ihr verstrickte er sich in endlose Gedankengänge, die sich schließlich lösten, ordneten, zu einem eindeutigen Bild wurden, wie ein Mosaik aus Eisstücken. Und es war alles klar und einleuchtend.

 

  Und wie er das Nordlicht vermisste, das bei ihr doppelt hell schien. Die wehenden Schneeschleier, die nichts verdeckten, nichts verhängten, die den Wind durchließen und die Kälte. Die wunderbare Kälte. –

 

  Das Schlimmst war nicht, dass er nicht mehr bei Ihr war. Das Schlimmste war, dass er wusste, dass Sie immer noch da war. Dass Sie jetzt, im Winter, wieder da draußen war, vielleicht sogar vor dem Haus, vor den Fenstern hin und her strich, die er nicht öffnen durfte; und dann der Blick, den Gerda ihm zuwarf, jeden Abend, wenn sie die Vorhänge zuzog, fest, und übereinander legte, oh ja, Gerda wusste auch, dass Sie da draußen war.

 

  Die Kerze auf dem Tisch, die er vergessen hatte zu schneuzen, fing an heftig zu blaken, und als der Rauch ihm in die Nase drang sprang er auf, plötzlich, als ob seine Nerven es nicht mehr hätten ertragen können. Er ging aus der heißen, verqualmten Stube nach nebenan, wo die Betten standen, und wo es so viel kühler war als in der Wohnstube, und dann sah er, dass Gerda vergessen hatte, hier die Vorhänge zuzuziehen. Von draußen fiel Mondlicht ins Zimmer, sanfte Helligkeit, und er ging ans Fenster. Die Scheiben waren mit Eisblumen überzogen. Er trat näher. Früher hatten sie Gucklöcher in die Blumenmuster gehaucht, Gerda und er, und irgendwann hatte er damit aufgehört, wollte nichts zerstören von dem Eismuster, das klar und geometrisch war, Blumen wie Sterne, wie geometrische Figuren, und er ahnte damals wohl schon, dass das andere Blumen waren, nicht wirklich von dieser Welt, Ihre Blumen.

 

  Und die blühten jetzt hier, am Fenster der Kammer in der jetzt auch das Kleine schlief, überzogen das Glas mit Ihren Zeichen, und das bedeutete für ihn, dass Sie da war, immer noch in seiner Nähe, sich keinen neuen kleinen Jungen mit einem Schlitten gesucht hatte, nein, Sie war immer noch bei ihm, immer noch….und dann sah er, dass die Eisblumen anders aussahen, als die in die er früher Gucklöcher gehaucht hatte, hatten nichts Geometrisches und Sternenhaftes mehr, waren rund und weich geformt und schlangen sich umeinander, das waren, aber das konnte doch nicht sein, das waren – „Rosen,“ sagte er, tonlos. Und noch einmal: „Rosen.“ Und er fasste sich ins Gesicht, wo etwas feucht und warm und widerlich war, Tränen, und es würgte ihn im Hals, und mit seinen nassen Fingern griff er den Schemel, der neben dem Bett stand, holte aus, mächtig, und zerschlug die vereiste Fensterscheibe, zerschlug sie in tausend geometrische, scharfkantige Stücke.