von Florian Ehrhardt

„Palermo? Spinnst du?“, fragt Sven.
Ich drehe das Radio lauter „…steig ein wir fahr’n die Karre leer!“, brüllt ihm Sondaschule entgegen.
„Fabi, wo hast du die Kiste überhaupt her?“
„Erzähl ich später. Steig ein.“
„Junge, die’s nicht geklaut, oder?“
„Nö. Komm jetzt, wir müssen los!“
„Bist du wieder besoffen?“
„Neee.“
Er sieht mich skeptisch an. „High? Druff?“
Ich schüttle den Kopf und tätschle den Beifahrersitz. „Steig ein.“

„Fabi, es ist“ – er wirft einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr – „7:39 Uhr an einem Freitagmorgen und du willst mit dieser Rostlaube nach Palermo fahren?“

„Was hast du am Wochenende sonst vor?“

Er winkt ab und verschwindet im Hausgang.

Als der Song vorbei ist, drücke ich die kleine Zurücktaste am Radio. Warte. Er kann doch nicht das ganze Wochenende mit seinen Zockerfreunden auf Discord verbringen wollen, oder? Wieder verklingen die letzten Takte und ich aktiviere den Dauerschleifenmodus. Warte weiter.

Die Jungs setzen zum vierten Durchlauf an, als Sven wieder auftaucht, die blitzschnell zusammengepackte Tasche auf die Rückbank wirft und einsteigt. „Ich muss verrückt sein…“, brummelt er kaum hörbar.
„…es sind nur tausend Kilometer, tausend Kilometer bis zum Meer!“, kommt es aus dem Radio.

Als die Alpen am Horizont schon fast verschwunden sind und jeder Winterpausenfußballtransfer von Liga eins bis drei ausdiskutiert ist, wagt Sven nochmal einen Versuch: „Fabi. Wo kommt die Karre her?“

Ich blicke stumm geradeaus, während der rote uralt-Golf über die Betonplatten-Autobahn brettert. Der Rai Uno-Moderater brabbelt irgendwas Unverständliches, wahrscheinlich kommt bald wieder die CD mit unserem neuen allerliebsten Lieblingslied zum Einsatz.

„Erde an Fabi?“

Ich seufze theatralisch auf. „Reicht’s dir nicht, dass uns das Ding nach Sizilien bringt?“

Er lenkt ein wenig ab, will mich am Reden halten: „In einem Rutsch können wir eh nicht durchfahren, oder?“

„Können schon, nur kommen wir dann wahrscheinlich nicht lebendig an. Wahrscheinlich machen wir irgendwo zwischen Florenz und Rom Pause.“

„Du musst sagen, falls ich Mal fahren soll.“

„Nö, alles gut, ist schließlich meins.“

„Und wo hast du es her?“

„War von meinem Großonkel.“, presse ich hervor. „Klaus, hab ich dir doch…“ Ich stocke.

„Der neulich…“

„Jo.“

„Shit, mein Beileid nochmal.“

„Schon okay“, beschwichtige ich, „er wär nur echt nochmal gern den Stiefel runtergefahren.“

„Sind wir deshalb unterwegs?“

Ich zucke die Achseln.

„Würde ihm bestimmt gefallen.“

„Hmm?“, artikuliere ich.

„Das hier.“

Zum ersten Mal schaue ich mir die Landschaft um uns herum wirklich an. Mir wird klar, wie schön der März sein kann, wenn es 22 Grad bei blauem Himmel hat und keine zwei bei Nieselregenschneematschgemisch. „Scho.“ Mehr Emotion bringt der mundfaule Schwabe in mir nicht raus. Das Gefühl, wie der Studienstress mit jedem Kilometer weiter bröckelt, könnte ich mit Worten eh nicht beschreiben.

Also schweigen wir uns an.

Dann bricht es doch aus mir heraus. „Vatter wollte das Ding verschrotten, kannst du dir das vorstellen?“ Ich merke, das meine Stimme ein wenig bebt.

„Was?“ Er sieht mich entgeistert an.

„Und Katja hat nur wissen wollen, wieviel man dafür noch bekommt.“, füge ich wütend an.

Sven kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, denn er weiß, wie schwer es mir fällt, Sympathie für meine große Schwester zu zeigen. Er lässt mich weiterreden.

„Weißt du eigentlich, wie lange ich betteln musste, bis ich das Ding vor der Metallpresse retten konnte? Der hat sich fast ne Woche stur gestellt und diesmal war nicht Mal Mama auf meiner Seite!“

„Haben die von dieser Schnapsideentour hier gewusst?“

„Ja.“, gebe ich zu. „Find’s trotzdem geil, du?“

„Safe.“

Wir genießen still, während der Apennin mit 120 km/h an uns vorbeidonnert.

Am Ende ist es der Autogrill-Parkplatz in der Pampa geworden. Orvieto oder so heißt das hier. Solange man jung ist, reichen auch noch Autositze zum Pennen, haben wir uns gestern gesagt, unsere Verspannungen entlarven die Lüge. 27, das magische Alter in dem das Hirn gerade mal ausgewachsen, aber die Wirbelsäule schon bereit für die Altersteilzeit ist.

Sven reißt mich aus meinen Gedanken: „Ey, siehst du die?“

Natürlich sehe ich die junge Italienerin mit dem NAPOLI-Pappschild in der Hand.

Wir müssen kein einziges Wort wechseln, um zu entscheiden, dass wir sie bei unserem Roadtrip mitmachen lassen wollen.

Sven, weltbester Wingman, steigt aus, hält ihr die Tür auf und steigt selbst hinten ein.
Sie weiß genau was abgeht, schmunzelt und meint: „Ragazzi…sempre stupidi!“

„Como tu…ti…?“, stottere ich, während ich von der Parkbucht auf die Autobahn holpere.

„Francesca.“ Sie grinst, was ihre Grübchen noch süßer macht. Die schwarzen Haare fallen über ihre Schultern und wir sind wahrscheinlich wirklich beide ein bisschen verliebt.

„Boah, voll Film Alter“, flüstert Sven von der Rückbank, während ich beschleunige.

„Und schau lieber auf die Straße.“, meint sie.

Ich ramme fast den FERCAM-Laster, an dem ich gerade vorbeiziehen will. „Du sprichst—“

„Chiaro, so schwer, wie ihr Tedeschi euch das einbildet, ist eure Sprache jetzt auch nicht!“, lacht sie, „und wie heißt ihr?“

Wir stellen uns vor. Versuchen, irgendwie die Sinnhaftigkeit unseres sinnlosen Trips zu erklären. Francesca lacht viel und gefühlt sind wir jetzt doppelt so schnell unterwegs.

„Ach ihr…“

Wir blicken sie verträumt an.

Als wir am Golf von Neapel endlich zum ersten Mal das Meer glitzern sehen, bin ich fast wehmütig. „Sicher, dass du rausmusst?“, säusele ich fast verliebt.

Sie grinst. „Chiaro, mein Verlobter will schließlich nicht ewig warten.“

Der Tiefschlag lässt Sven und mich ein kollektives, kraftloses „ühmhmpf!“ ausatmen.

Er gewinnt die Fassung schneller wieder. „Hättest du das nicht früher sagen können? Ich hatte mir schon Namen für unsere Kinder ausgedacht!“, scherzt er.

Sie grinst nur.

Meine Güte, dieses Grinsen, mehr Gedanke bringt mein Schädel nicht raus.

„Ihr wollt mir doch nicht ernsthaft sagen, dass ihr mich mitgenommen hättet, wenn Ihr das gewusst hättet, oder?“

„Schade.“, murmele ich, während ich Mario und Melina gedanklich zu Grabe trage. „Wirklich schade.“

Ich pfeife die Melodie von Palermo während Sven in das harte Brot beißt. „Schmeckt scheiße“, murmelt er.

„Wenigstens hast du dich nicht mit diesem ekligen Flüssighonig eingesaut.“

„Ich hätte ja schon gedacht, dass wir für die Karre ein besseres Hotel bekommen.“

Ich hebe den Finger. „Hostel. Ohne „s“ hätten wir noch was zuschießen müssen.

„Mir egal.“

„Der hat uns eh abgezockt, der Mafioso.“

„Stimmt“, meint Sven, „aber immerhin mit Meerblick.“

Unsere Blicke schweifen über den Industriehafen vor uns.

„Danke, dass du heute Nacht gefahren bist, keine Ahnung, wie dir von der Fährüberfahrt nicht schlecht geworden ist.“, wechsle ich das Thema.

„Kein Ding, war dann ja nicht mehr so weit.“

„Dreieinhalb Stunden, oder?“

„Chiaro.“, flötet Sven.

„Hör auf, du brichst mir noch das Herz!“

„Selber schuld! Du wolltest doch hierher!“

„Schon klar. Die haben aber nicht davon gesungen, dass es hier stinkt und die Tauben überall hinscheißen.“

Er fährt unbeirrt fort: „Und dein Frühstück hast du auch bekommen.“

Ich nicke.

Mein Handy gibt einen Piepton von sich. Flug 1846 mit Ryanair von Palermo nach Frankfurt (Hahn) startet in 3 Stunden, bitte begeben Sie sich zum Flughafen. „Ich glaube, wir müssen“, seufze ich.

„Hey“, sagt Sven leise, „das nächste Abenteuer kommt bestimmt!“, während das Hornsignal des ablegenden Öltankers das letzte bisschen vom aktuellen Abenteuer hinwegweht.


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