Von Brigitte Noelle

 

Gordon E. Miller erwachte. Als der Quantenphysiker versuchte, sich auf die Seite zu wälzen, hinderte ihn etwas an seinen Bewegungen: Elastisch und doch fest zog es an seinen Gliedern. Was bedeckte seine schlafesweiche Haut mit einem gummiartigen, weichen Material? Es schien aus seinem Körper heraus zu quellen. Verwirrt sprang er aus dem Bett und erblickte eine Gestalt im Spiegel: In eine schwarze Masse gehüllt – waren es Schleier? Oder Kunststoffmatten? Doch es sah so … amorph aus, breitete sich von seinem Rücken in dichten Falten bis zum Boden aus und verdeckte zusehends seine menschliche Figur. So fremd, und doch irgendwie vertraut. „Bin das – ich?“, frage er sich. „Ist das – er?“

 

Wie sehr sehne ich mich nach meinem Heimatplaneten No*ona, mit seinen leuchtenden Bächen und grünen Sonnen! Und wie sehr vermisse ich meine Fluidgemeinschaft. Bestehend aus sieben einzelnen Wesen des gleichen Stammes, sind wir erst in unserer Verschmelzung stark, fühlen uns vollständig, können knospen, Freude empfinden und zum Schluss auch im Kreise der Vertrauten aus dem Leben scheiden.

Doch schon fast unendlich lange Zeit sind meine drei überlebenden Freunde und ich auf diesem kleinen blauen Planeten gefangen, dessen Bevölkerung dabei ist, ihn unbewohnbar zu machen. Einen letzten Versuch zu entkommen können wir noch unternehmen.

Damals, als unser Raumschiff explodierte, konnten sich einige von uns in den Rettungskapseln in Sicherheit bringen und wurden ins All geschleudert. Ich landete auf diesem Planeten. Die Atmosphäre war der unsrigen ähnlich, doch alles Leben schien erstarrt zu sein. Einige Tage später bemerkte ich jedoch, dass die Bewegungen der Bioformen tausendmal langsamer verliefen als meine eigenen. Da war ich nun, gestrandet in einer fremden Welt. Gab es noch andere Überlebende? Die Suche glich der einer Nadel im Heuhaufen. Ich zog durch die Welt und hoffte, auf ein Signal meiner Artgenossen zu stoßen. Nach langer Zeit der Hoffnung und Verzweiflung fand ich schließlich Zuo’n, und zusammen konnten wir zwei weitere Freunde entdecken.

Was sollten wir tun? Zwar gab es auf dieser Welt ausreichend Rohstoffe, um ein Raumschiff zu bauen, doch waren unsere Kräfte zu schwach, unsere Menge zu klein, um die Arbeiten durchzuführen. So beschlossen wir, die Hilfe der Lebewesen zu benutzen, die hier lebten. Direkte Kommunikation war ausgeschlossen, denn da wir so viel schneller waren als alles andere, konnten sie uns kaum wahrnehmen, bemerkten vielleicht ein kurzes Summen, oder, wenn wir einmal lange Zeit inne hielten, einen flüchtigen optischen Eindruck. Doch wir hatten die Möglichkeit, die fluidale Verschmelzung in eingeschränktem Ausmaß mit ihnen zu praktizieren. Äußerlich unverändert, partizipierten sie an unserem Wissen und würden so einen Weg finden, uns nach Hause zu bringen.

Zunächst versuchten wir es mit den kleinen, geflügelten Insekten, die uns aufgrund ihrer Schnelligkeit vielversprechend erschienen, doch dieses Experiment schlug fehl, da das Gehirn dieser Wesen nicht entwicklungsfähig war.

Dann wählten wir diese zweibeinigen, langsamen Wesen mit ihrem relativ großen Gehirnvolumen: Die Menschen, und das erwies sich als Glückstreffer. Langsam, mit unendlicher Geduld, lehrten wir sie den Gebrauch von Werkzeugen, die Grundlagen der Technik, und nach einer kleinen Ewigkeit konnten wir Hoffnung schöpfen. 

In einigen Fällen waren wir zu ungeduldig. So wählte ich einmal einen Maler aus dem kleinen italienischen Dorf Vinci, den ich Flugkörper entwerfen ließ. Leider stellte sich heraus, dass uns diese Erfindungen nie auch nur annähernd aus dem Kraftfeld der Erde bringen würden.

Auch wären wir manchmal beinahe entdeckt worden. So beobachtete ich seinerzeit einen deutschen Ex-Mönch, dessen innovative Ideen mein Interesse erweckt hatten, bei seiner Bibelübersetzung. Ich war so in den Anblick versunken, dass er mich erblickte und mit einem Tintenfass nach mir warf. Zuo’n hingegen mit seiner weißen Schleierhaut wurde immer wieder gesichtet und ging als „Gespenst“ in die Literatur ein.

Wir hatten beschlossen, an verschiedenen Orten zu operieren und einmal im Jahr unsere Erfahrungen auszutauschen und weitere Vorgangsweisen zu besprechen. Das machte notwendig, unsere eigene Gestalt anzunehmen. Die Menschen merkten davon nichts, denn für sie dauerten unsere Zusammenkünfte nur wenige Sekunden.

Unsere Erfahrungen trugen Früchte, und die technischen Fortschritte der Menschheit wuchs in – aus ihrer Sicht – atemberaubendem Tempo. So konnte ich einem Herrn August Kekulé im Traum die Grundlagen der organischen Chemie vermitteln, die zur Entwicklung des Raketentreibstoffs benötigt wurden. Zuo’n hingegen setzte auf Kernkraft und zeigte Niels Bohr den Weg zum Atommodell.

Womit wir jedoch nicht gerechnet hatten, war die Unvernunft und zerstörerische Habgier der menschlichen Spezies. Anstatt ihr Wissen zum Wohle aller einzusetzen, begann sie, den Planeten auszubeuten und zu verpesten. Davon konnten auch wir sie nicht abhalten, denn was wogen schon unsere vier Stimmen gegen das Heer mehrerer Milliarden?

Zunehmend bezweifelten wir, ob wir rechtzeitig diesen dem Untergang geweihten Planeten verlassen konnten und entschieden uns zu einer alternativen Strategie: Wenn wir nicht schnell genug wegkämen, mussten wir mit unserer Heimat Kontakt aufnehmen. Eigentlich wollten wir das, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, vermeiden, aber die Zeit wurde knapp und wir hatten keine andere Wahl. Ich entdeckte einen Quantenphysiker, der bei SETI arbeitete, einer Reihe von Projekten zur Suche nach außerirdischer Intelligenz, und verschmolz mit ihm. Mit meiner Hilfe erfand er die Methode der interstellaren Quantenkommunikation. Beim ersten Versenden dieser Signale konnte ich eine verschlüsselte Nachricht an unseren Planeten unterbringen.

 

Gordon E. Miller stand vor dem Spiegel. „Bin das – ich? Ist das – er?“ Da war er nun, Tla’asa vom Planeten No*ona. Er konnte es kaum erwarten, seine Freunde zu treffen und ihnen die neuesten Nachrichten zu erzählen: Gestern erreichte ein Signal die Forschungseinrichtung, undeutlich, kaum bemerkbar, aber Tla’asa erkannte es und konnte es sofort entschlüsseln: „Haltet aus, wir kommen, um euch zu holen. Eure Fluidgemeinschaften erwarten euch sehnsüchtig.“

Einige Sekunden später erwachte Mr. Miller aus einem schweren Traum. „So etwas Verrücktes“, dachte er. „Jetzt habe ich doch glatt geträumt, ich wäre etwas Schwarzes. Batman? Der Mothman?“ Schlaftrunken stand er auf und hatte die Nachtmahr schnell darauf vergessen.

 

Bald bin ich nach unendlich langer Zeit wieder zu Hause. Ich werde mit mit den anderen sechs Gleichgearteten meiner Gemeinschaft verschmelzen, eine oder zwei Knospen ansetzen und in die Ewigkeit des Fluidums eingehen.

 

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