Von Peter Burkhard

In einer Senke, von der Straße aus nicht einsehbar, lag Henrys kleines Gehöft.

Der junge Bauer hatte eben den Schafpferch verlassen und war daran, die Milch ins Haus zu tragen, als Dan in seinem klapprigen, alten Ford auf den Hof fuhr. Dan war Henrys Freund und Gespiele, der ihn zwei- oder dreimal in der Woche besuchte.
Der Ankömmling sprang aus seinem Pick-up, lehnte sich über die Seitenwand der Ladebrücke und hob einen Jutesack aus einer hölzernen Kiste. Er trug den Sack vorsichtig auf die Veranda des Hauses und deponierte ihn sorgfältig unter einem Tischchen. Dann betrat er die kleine Küche und machte sich mit einem Zischen bemerkbar, bevor er von hinten die Arme um den Hals seines Gefährten schlang.
„Ich habe ihn gesehen“, flüsterte er ihm ins Ohr. „Er ist in der Gegend und glaube mir, er wird aufkreuzen.“ Henry, der seinen Liebhaber hatte kommen hören, drehte sich gelassen um. Ohne sein Küchengerät wegzulegen, küsste er Dan flüchtig, als wäre er bloß für ein paar Minuten weg gewesen.
„Wenn er kommt, ist er tot, ich werde ihn nicht auf meinen Hof lassen, das schwöre ich dir!“
„Zweihundert Jahre sind vergangen, seit der letzte seiner Art in dieser Region sein Unwesen trieb. Doch nun erweckt es den Eindruck, dass er den Weg zurück ins Tal gefunden hat.“ Dan blieb beim Thema, das ihn  zu beschäftigen schien: „Es ist jetzt schon einige Wochen her, dass Jan zwei von ihnen zum ersten Mal gesichtet …“
„Und damit gehörig Unruhe unter die Viehzüchter gebracht hat“, fuhr Henry enerviert dazwischen. „Diese Bestie hat uns gerade noch gefehlt!“
Dan riss den maroden Kühlschrank auf, entnahm ihm zwei Bierdosen und öffnete sie. Die eine stellte er Henry hin, bevor er selbst einen kräftigen Schluck nahm. „Wir müssen uns etwas einfallen lassen, um deine Tiere zu schützen, besonders die Schafe. Was denkst du, wird er sich auch an die Rindviecher heranwagen?“
Henry ergriff seine Dose, setzte sich auf den schweren Küchentisch und ließ die Beine baumeln. „Ich glaube nicht, dass einer oder zwei von denen die Kühe mehr als nervös machen können, vor allem, wenn diese nachts im Stall sind. Aber die Schafe kann ich unmöglich schützen, die muss ich draußen lassen.“
„Dann wird er sie holen, das garantiere ich dir!“
„Dann ist er so gut wie tot!“, Henry gab sich siegessicher, obwohl er wusste, dass er sich einem sehr schlauen Gegner gegenübersehen würde.

Während des Abendessens sprachen die beiden nicht viel. Jeder schien beim Genuss des Linsen-Eintopfes seinen eigenen Gedanken nachzuhängen.
Dan legte seinen Löffel beiseite, blickte auf und wischte sich mit der Hand über den Mund: „Ich gehe dann mal hinaus und belade den Wagen, iss du nur ruhig …“ Ein Winseln vor dem Haus ließ ihn stutzen, dann lachte er kurz auf: „Verdammt, der arme Kerl, wie konnte ich den nur vergessen? Komm mit, du kannst nachher fertig essen, ich habe da noch etwas für dich!“
Er stakste auf die Veranda, sein Freund folgte ihm widerwillig mit fragendem Blick.
„Hast du etwas, um eine Schnur durchzuschneiden?“ Dan zog den Sack mit dem winselnden Etwas unter dem Tisch hervor und hievte ihn auf dessen Platte.
Mit einem Messer aus der Küche zerschnitt Henry die Schnur.
Der kleine, arg verschmutzte Welpe machte keinerlei Anstalten seinem Gefängnis zu entfliehen. Er wirkte verschüchtert und erschöpft. Etwas später schlabberte er immerhin noch etwas Wasser, während die Männer den Truck beluden.
Henry schnäuzte sich in den Ellbogen und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. „Verdammt, was soll ich mit diesem Köter? Warum musstest du den finden?“
„Hätte ich ihn etwa in diesem Drecksloch krepieren lassen sollen?“, brummelte Dan vor sich hin. „Ohne meine Hilfe wäre er binnen kurzer Zeit verhungert!“
„Ja, ist schon okay, aber von mir aus soll der morgen wieder abhauen, so schnell wie nur möglich.“

Doch der Neuankömmling dachte nicht im Entferntesten daran abzuhauen. Er gefiel sich vielmehr darin, die Lämmer herumzujagen. Und als sich rasch abzeichnete, dass der junge Hund sein neues Zuhause gefunden hatte, taufte ihn Dan Charly, in Erinnerung an seinen Esel, der im vergangenen Herbst eingegangen war. Schon bald fühlte sich Charly als Mitglied der Schafherde, in welcher er trotz seiner ungestümen Art von allen Tieren geduldet wurde. Er wuchs heran zu einem stattlichen Tier mit der Physiognomie und der Schlauheit eines Wolfes und niemand außer den beiden Männern musste seiner neuen Familie zu nahe kommen. Da kannte der Rüde kein Pardon.

Am Dreikönigstag verkündete Helen, die Tochter des Jagdaufsehers, stolz im Dorf: „Der Wolf ist tot!“
Ihr Vater ließ den Kadaver an einem hölzernen Gestell hinter der Kirche aufhängen, damit jedermann, der den Räuber gefürchtet hatte, sich von dessen Ableben überzeugen konnte.
Nun war er also tot, auch wenn der Isegrim sich nie auf Henrys Hof hatte blicken lassen. Andere Schafzüchter des Tales hatten diesbezüglich weniger Glück: Mehr als zwanzig Schafe und Lämmer gingen auf dessen und seiner Fähe Konto.
Es war Helens Bruder gewesen, der den todbringenden Vierbeiner auf einem seiner Kontrollgänge durch den verschneiten Bergwald erschossen hatte. Die schwarze Wölfin, so prahlte der Schütze, hätte daraufhin das Weite gesucht, aber auch sie werde ihm nicht entkommen, das sei nur eine Frage der Zeit.

Der Frühling zog ein und niemand mehr sprach von der verschwundenen Wölfin. Im Alltag war sie aus den verängstigten Köpfen der Dorfbewohner gewichen.
Bis zu jenem tragischen Wochenende im März, an dem Henry in den frühen Morgenstunden eines Sonntags mit Dan aus dem Städtchen nach Hause zurückgekehrt war.
Nach wenigen Stunden Schlaf, es ging gegen Mittag, folgte das bitterböse Erwachen. Dan fiel die Abwesenheit des Hundes auf. „Henry, hast du Charly gesehen? Wo der sich wohl versteckt haben mag?“
Sein Schatz, mit der Zubereitung eines reichhaltigen Katerfrühstücks beschäftigt, leckte den tropfenden Löffel ab, den er aus dem Honigglas gezogen hatte. „Schau einmal bei den Schafen nach, wahrscheinlich hat er wieder einmal in deren Pferch übernachtet!“

Zwei Schafe waren bereits tot. Das Dritte lag, noch leicht zuckend und mit leeren Augen in seinem Blut. Der Rest der Herde hatte sich, verängstigt und Körper an Körper gedrängt, in die gegenüberliegende Ecke des Geheges geflüchtet. Von Charly fehlte jede Spur.
Die Schwarze Witwe, schoss es Dan durch den Kopf, als er die Folgen des Massakers sah. Sie ist wieder im Tal, und diesmal hat sie keinen Bogen um unsere Tiere gemacht! Aber wo steckt Charly? Hat er die Schafe, die seine Familie waren, im Stich gelassen und ist vor seiner wilden Verwandten geflohen? Oder hat sie möglicherweise auch ihn verletzt oder gar getötet?
Henrys Freund sah sich entsetzt um. Das Einzige, was ihm zur Verfügung stand, um das sterbende Muttertier von seinen Qualen zu erlösen, war ein Vorschlaghammer, den sein Partner am Vortag hatte stehen lassen. Nachdem er sich an einen Pfosten übergeben hatte, zerrte er die drei toten Tiere an den Rand des Geheges und deckte sie mit einer Plane behelfsmäßig zu. Danach wankte er benommen zurück in die Küche und ließ seinen hasserfüllten Gefühlen freien Lauf.
Das Gemetzel unter Henrys Schafen ließ keinerlei Zweifel im Tal: Die Schwarze Witwe war zurück!
Fortan durchstreiften die Männer des Dorfes regelmäßig die Region. Auch Henry und Dan nahmen mehrmals an erfolglosen Suchen nach der trickreichen Jägerin teil. Ihnen ging es hauptsächlich darum, etwas über den Verbleib ihres treuen Kumpanen zu erfahren, der an jenem Sonntag auf mysteriöse Weise verschwunden war.

* * *

Nach dem Abschuss ihres Partners musste die schwarze Wölfin den restlichen Winter allein überstehen.
Als der Schnee im Tal zu schmelzen begann und die Tage länger wurden, verspürte sie ein wachsendes Bedürfnis und sie machte sich auf die Suche nach einem neuen Gefährten. Unentwegt streifte sie heimlich durch das ganze Tal und wagte sich bald auch wieder in die Nähe der Dörfer und der Menschen.
Die Suche nach einem starken Männchen schien zunächst aussichtslos, hatte doch Helens Bruder den einzigen Wolfsrüden, der sich ins Tal gewagt hatte, erschossen. Es gab nur noch Hunde auf den Höfen, jämmerliche, dem Menschen völlig ergebene, willenlose Kreaturen.
In einer sternenklaren Nacht gelangte sie auf Henrys Hof. Durch einen Spalt drang sie in den Schafpferch ein und riss die drei Tiere, welche Dan später finden sollte.
Sie richtete ein furchtbares Blutbad an und hätte sicherlich noch weiter getötet, wenn Charly nicht durch das laute Blöken der aufgeschreckten Herde auf den Eindringling aufmerksam geworden und in Riesensätzen vom Haus zum Gehege gerast wäre. Doch dem gewieften Raubtier gelang es, rechtzeitig unter der Einzäunung durchzuschlüpfen und zu entkommen. Es floh weit hinauf in die Hänge und brachte sich an dem Ort in Sicherheit, der ihm während des ganzen Winters die nötige Zuflucht geboten hatte. Die Wölfin war hungrig und matt, ihr Instinkt jedoch signalisierte ihr, dass sie endlich auf ihren neuen Partner gestoßen war, jetzt musste er nur noch den Weg zu ihr finden.
Wenig später, nach einer kräftezehrenden Verfolgungsjagd, entdeckte Charly das paarungsbereite Weibchen im Schutz seiner versteckten Höhle.

Zwei Monate nach ihrer ersten Begegnung mit ihrem neuen Partner brachte die Fähe vier Junge zur Welt. Und weitere acht Wochen später führte sie die beiden überlebenden Welpen aus dem sicheren Bau an ein geschütztes Versteck, wo sie allein blieben, während ihre Eltern auf die Jagd gingen.
Eines frühen Morgens fielen drei Schüsse und noch am selben Nachmittag ließ der Jagdaufseher den Kadaver des getöteten Tieres am hölzernen Gestell hinter der Kirche aufhängen. Wieder versammelten sich die Menschen und debattierten darüber, ob das große kräftige Tier wirklich ein Wolf wäre.

 


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