Von Ursula Steinriede

„Ich möchte dir etwas erklären,“ sagte sie, „bitte hör mir zu!“

Sie war stolz darauf, eine Bitte formuliert zu haben an statt einer Anklage, er legte freundlich die Zeitung zur Seite und wandte ihr aufmerksam- nein tat er nicht, er sagte “mmmh“ wie immer und las weiter.

Ina legte den Stift zur Seite, es gefiel ihr nicht, was sie schrieb, sie war deprimiert. War sie nicht sich selbst gegenüber wie ein gelangweilter, unaufmerksamer Ehemann, der keine Ahnung vom inneren Reichtum und der Schönheit seines Gegenübers hat? Sie hätte geseufzt, wenn das nicht zu abgedroschen geklungen hätte, also atmete sie nur tief ein und aus.

Sie stand auf, sah aus dem Fenster. Sie wusste nicht, warum ihr das Märchen von Schneewittchen einfiel, während sie auf die trübe Straße blickte. Schönheit. Sie hatte nicht mal einen Ehemann.

Als Kind hatten ihr vor allem die Zwerge gefallen, es wäre schön, in einem Zwergenhaus zu leben, sieben Zwerge, alle für ein Schneewittchen. Und wie oft hatte sie sich aufgeregt darüber, wie dumm Schneewittchen war, weil sie immer wieder auf die Stiefmutter hereinfiel? Waren nicht alle dumm in diesem Märchen? Sie biss sich auf die Unterlippe- die Stiefmutter war dumm und ließ sich vom Jäger betrügen, die Zwerge waren dumm, sie glaubten beim dritten Mal immer noch, dass Schneewittchen die Tür nicht aufmachen würde, der Prinz war dumm, der sich in ein totes Mädchen verliebte, und sie war dumm, weil sie dieses blöde Märchen immer noch liebte.

Schönheit. Nur der Spiegel war nicht dumm. Er ließ sich nicht täuschen. Er konnte Schönheit sehen. Er konnte Schönheit sehen, ohne berührt zu sein, tief in seiner Seele, ohne dass sie im tiefsten Grunde Neid oder Sehnsucht hervorrief. Konnte er Schönheit empfinden? Konnte sie selbst Schönheit empfinden oder nur das Verlangen nach Schönheit? Sie schüttelte unwillig den Kopf, was sollten diese Gedanken?

Schneewittchen war immer ein Freibrief für sie gewesen. Selbst wenn deine Mutter sterben würde und deine Stiefmutter dich umbringen wollte: Erstens: du bleibst die Schönste. Zweitens: es rettet dich immer einer- es wird immer einen Jäger geben, der sein Leben für dich riskiert, oder unermüdliche Zwerge, und wenn gar nichts mehr geht den Prinzen.

Hatte doch ganz gut geklappt. Sie lächelte. Klar ein paar Ohnmachten gehörten auch dazu. Und immer die gleichen Fehler. Saß sie im Zwergenhaus und machte immer wieder die Tür auf? So lustig war das doch nicht. Der Jäger, die Zwerge und der Prinz taten ihr leid. Sie hatte immer gedacht, sie hätte es verdient, dass die Männer sie retteten, sie war doch die Schönste, und für die Männer wäre es auch das Schönste, für sie da zu sein. Vielleicht war es auch einfach mühsam? Vielleicht war es auch mühsam und schön, für die Mühen mit einem Lächeln belohnt zu werden? Ja, so sollte es sein, ein Lächeln hatte Schneewittchen bestimmt gehabt, wenn die Zwerge heimkamen oder sie aus einer Ohnmacht weckten. Sie schämte sich. Was ist Schönheit ohne ein Lächeln? Die Schönheit der Stiefmutter. Sie seufzte und es war ihr egal, dass es abgedroschen klang.

Sie ging zur Kommode, öffnete die Schublade und nahm die Schere heraus. Sie sah fest in den Spiegel und schnitt Strähne für Strähne ihre Haare ab, bevor sie ausfallen würden. Jede schwarzglänzende Strähne wog einen Zentner, mit jeder Strähne, die auf die Kommode fiel, fiel die Last ihrer Eitelkeit von ihr ab. Ihr Spiegelbild lächelte sie an und sie lächelte zurück.

Augenringe, schwarz wie Ebenholz, rotes Gift im roten Blut, ihre Kopfhaut, weiß wie Schnee.

Wie schön sie war.