Von Ingo Pietsch

Die Fahrstuhltüren begannen sich zu schließen.

Victoria trippelte, so schnell sie konnte mit ihren hochhackigen Schuhen, der Bewerbungsmappe im Arm und der Handtasche über der Schulter, den Flur entlang.

Wenn sie den Aufzug nicht mehr erreichte, würde sie zu spät zu ihrem Einstellungsgespräch kommen – und dann hätte sie verloren. Die letzte Chance auf einen Job hier in der Stadt.

Sie zwängte sich durch das gute Dutzend Wartender, klemmte ihren Fuß zwischen die Türen und atmete tief durch, als der Fahrstuhl sich in Bewegung setzte.

„Das war knapp!“, sagte Victoria mehr zu sich selbst.

„In der Tat.“ Kam eine raue Stimme von der anderen Seite der Kabine.

Victoria wandte sich um und blickte auf eine ernst dreinschauende Frau mittleren Alters. Sie trug genau wie sie ein Buisness-Dress und hatte ihre Haare zu einem strengen Knoten gebunden.

Sie hielt ebenfalls eine Bewerbungsmappe an sich gepresst, was Victoria an dem geprägten Schriftzug erkannte.

„Entschuldigen Sie bitte, falls ich den Aufzug unnötig aufgehalten habe, aber auch ich habe ein Bewerbungsgespräch im Sekretariat und hasse Unpünktlichkeit und wenn man nicht auf Anrufe reagiert oder die Socken nicht in die Wäsche wirft oder gefeuert wird, weil man ein Verhältnis mit dem Juniorchef hat.“ Victoria ballte die Hände zu Fäusten und fletschte die Zähne. „Tut mir leid, wenn ich Sie mit meinen Problemen belaste. Aber im Moment hat sich alle Welt gegen mich verschworen.“ Sie lief auf der Stelle und wedelte sich mit ihrer Mappe Luft zu.

„Oh, tun Sie sich keinen Zwang an. Ich kann gut zuhören.“

Erst jetzt fielen Victoria die Lachfältchen in dem ernsten Gesicht auf. Sie schob ihre viel zu große Brille auf die Nasenspitze und musterte die Frau. „Irgendwoher kenne ich Sie. Haben wir schon einmal zusammengearbeitet?“ Ehe ihr Gegenüber antworten konnte, fuhr sie schon fort: „Ich war zuletzt bei Robert und Sohn angestellt. Eine ganz tolle Anwaltskanzlei. Da haben wir uns möglicherweise schon einmal getroffen.“

Die Frau öffnete den Mund, doch Victoria war schneller.

„Ja, da muss es gewesen sein. Ich habe ein ziemlich gutes Gedächtnis. Und ich kann schnell Tippen. Vierhundert Anschläge und achtzig Wörter die Minute. Ich rauche nicht, trinke nur gelegentlich Alkohol. Bin immer pünktlich und sehr gewissenhaft. Und ledig.“

Victorias Gegenüber hob den Zeigefinger, um eine Frage zu stellen, doch sie gab die Antwort von sich allein.

„Warum ich mich dann hier als Sekretärin bewerbe? Ganz einfach: Weil ich zu leichtgläubig bin. Ich habe mich auf ein Techtelmechtel mit dem Juniorchef eingelassen.“ Victoria grinste verschmitzt. „Normalerweise mache ich solche Sachen nicht. Ich bin eher jemand für feste Beziehungen. Dass er öfter Mal was mit Angestellten hatte, wusste ich. Ich machte mir vor, dass er mehr wollte. Und dann kam auch noch raus, dass er eine Verlobte hatte. Ebenfalls eine Sekretärin des Unternehmens. Ich wollte ihn zur Rede stellen, aber seine Mutter, die Inhaberin, wollte mich mundtot machen, mir eine Abfindung zahlen. Ich weigerte mich natürlich, was in meinem Rausschmiss endete. Kein Job, kein Geld.“

Der Fahrstuhl hielt und die Türen öffneten sich.

Ein junger Mann mit einem wankenden Stapel Akten beäugte die beiden Frauen und stammelte dann: „Ich nehme den Nächsten!“

Die Frau in der Ecke wollte etwas erwidern, aber Victoria fuhr den Angestellten in voller Rage an: „Das will ich ihnen auch geraten haben, denn ich erzähle hier gerade meine Lebensgeschichte.“

Ängstlich ging der junge Mann ein paar Schritte zurück und der Aufzug setzte sich wieder in Bewegung.

„Wo waren wir?“, wollte Victoria wissen.

„Job“, brachte die Frau gerade noch hervor, als Victoria schon wieder loslegte.

„Ja, genau. Die Schlampe, verzeihen Sie mir meine Ausdrucksweise, hat dafür gesorgt, dass ich in der ganzen Stadt keine Anstellung mehr bekomme. Auch bei gegnerischen Kanzleien kam ich nicht mal mehr durch die Eingangstür. Gestern Abend las ich noch das Inserat für eine Stelle hier im Unternehmen. Da rief ich natürlich gleich an, um mir ein Termin für ein Bewerbungsgespräch geben zu lassen. Tada, jetzt bin ich hier.“

„Haben Sie noch mehr Vorzüge, als dass sie so schnell Sprechen, wie sie schreiben können?“

Victoria überlegte kurz: „Ich bin laktoseintolerant, kann aber trotzdem gut kochen. Mhm. Ich lese gerne schnulzige Geschichten und bin sehr zuverlässig.“

Die Frau ihr gegenüber zog die Stirn kraus. „Sind wir nicht alle sehr zuverlässig und gewissenhaft? Und wenn Sie mit ihrer neuen Chefin auch wieder nicht klarkommen, was machen Sie dann? Ich habe gehört, sie soll ein ziemlicher Drachen sein.“

„Sie dürften mit ihr bestimmt keine Probleme haben. Ich schätze, sie ist so in ihrem Alter und heißt irgendwas mit Stein. Wahrscheinlich beißt man bei ihr auf Granit. Aber ich mache mir lieber selbst ein Bild von jemandem, den ich nicht kenne und verlasse mich nicht auf Hörensagen.“

„Sie haben sich aber nicht sonderlich auf ihr Bewerbungsgespräch vorbereitet, wenn Sie nicht mal ihre zukünftige Chefin kennen, geschweige denn das Unternehmen.“

Victoria war etwas verlegen: „Dafür blieb leider keine Zeit mehr. Aber ich kann auch gut improvisieren. Um eine Antwort bin ich nie verlegen. Was mir allerdings mehr als einmal Ärger eingebracht hat.“

„Ach wirklich, das kann ich mir bei Ihnen überhaupt nicht vorstellen. Sie wissen aber schon, wann Sie den Mund halten müssen und wann nicht?“

„Ich kann schweigen wie ein Grab.“ Victoria zog einen imaginären Reißverschluss an ihrem Mund zu. „Und ich kann Geheimnisse wahren. Ich bin die perfekte beste Freundin.“ Sie zwinkerte mit ihren Augen. „Was denken Sie, würden Sie den Job eher bekommen als ich?“

Die Frau überlegte ebenfalls. „Ich habe über dreißig Jahre Berufserfahrung. Wahrscheinlich sind Sie erst Mitte Zwanzig. Meine Finger sind trainiert wie eh und je. Ich habe mich regelmäßig weitergebildet, kenne mich mit den neuesten Officeprogrammen aus und kann den perfekten Kaffee kochen. Ich denke, ich bin mindestens genauso qualifiziert wie Sie.“

„Aber ich bin jünger“, warf Victoria ein.

Jetzt wurde die Frau ärgerlich.

Victoria lächelte verschmitzt: „Wissen Sie was? Ich überlasse Ihnen das Feld. Sie sind eher auf den Job angewiesen, als ich. Ich kann mir auch woanders was suchen. Ich bin eine Kämpfernatur. Ich schaffe das.“

„Sie geben einfach so auf?“

„Nein, aber wie ich schon sagte, gehe ich nicht über Leichen.“

Der Fahrstuhl blieb wieder stehen und öffnete sich.

Die Frau ging los. Victoria rührte sich nicht vom Fleck.

„Wollen Sie sich nicht wenigstens abmelden?“, fragte sie zurück.

Victoria folgte ihr bis zur Rezeption.

Die Dame hinter der Theke grüßte die Frau, die mit Victoria nach oben gefahren war. „Guten Morgen Frau Steinberger. Wie war die Fahrt hierher?“

„Gut, Danke der Nachfrage. Irgendwelche wichtigen Termine?“, fragte sie.

„Drei Bewerbungsgespräche.“

„Die können Sie alle absagen.“ Sie blickte Victoria an. „Ich denke, ich habe bereits eine Sekretärin für meine Tochter gefunden. Sie werden sich gegenseitig perfekt ergänzen. Und ich habe ich schon lange kein so ehrliches und herzerfrischendes Bewerbungsgespräch mehr geführt.“

Victoria errötete verlegen und wollte etwas erwidern, bekam aber kein Wort heraus.