Von Björn D. Neumann

Die rote Leuchtanzeige des Weckers zeigte 03:59. Bevor der nervende Piepton losging, deaktivierte Tim den Alarm. Er wäre eh unnötig gewesen. Tim lag die ganze Nacht wach. Drehte sich von einer Seite auf die andere und fand keinen Schlaf. Er hatte eine Entscheidung zu treffen. Er hatte sie getroffen. Aber es war nicht leicht.

Vorsichtig stieg er aus dem Bett. Er wollte Lisa auf gar keinen Fall wecken. Sie lag da wie ein Engel. Mit dem langen, blonden Haar, das sich auf dem Kissen verteilte. Die tiefen, gleichmäßigen Atemzüge und dem Gesicht, in das er sich schon als 16-jähriger verliebt hatte. Vorsichtig schob er die Decke zurück und küsste sanft ihren nackten, leicht gewölbten Bauch. Ohne aufzuwachen, lächelte sie und rekelte sich wohlig ins Kissen.

Tim warf ihr einen letzten verliebten Blick zu. Dann zog er den vorbereiteten Rucksack unterm Bett hervor und verließ lautlos das Schlafzimmer. Er ging die Treppe hinunter, peinlichst genau darauf bedacht, das Knarzen der alten Holzstufen so leise wie möglich zu halten. Mit der Zeit lernte man, wie man seine Schritte setzen musste, um nicht ein Konzert aus arbeitendem Holz zu veranstalten. An der Garderobe im Flur hing die schwarz-grüne Lederkombi. Im durch das Fenster fallende Mondlicht hätte man meinen können, dass ein Wächter an der Eingangstüre stände. Lächelnd nahm er sie vom Haken und zog sich im Hausflur um. Er konnte es sich nicht verkneifen, dabei sein Lieblingslied „Gelobtes Land“ von Peter Maffay zu summen: „Ich fahre los, schaue nicht zurück. Dunkles Leder umarmt mich, wie das pure Glück.“ Wenn es einen Soundtrack seines bisherigen Lebens gäbe, wäre dieses Lied an erster Stelle. Tim war Biker und das mit jeder Faser seines Körpers.

Als er das Licht in der Garage einschaltete, strahlte sie ihn an. Giftgrün, auf Hochglanz poliert. Eine Königin aus technischer Präzision und windschnittigem Design. Seine Kawasaki „Ninja“ H2R. Ein Traum, seit er sich mit Motorrädern beschäftigte. Ein so sehnsüchtiger Traum, dass er sich die über 50.000 € vom Mund abgespart hatte. Angefangen noch weit, bevor er Lisa kennenlernte. Letztes Jahr, dank einer kleineren Erbschaft, erfüllte sich der Traum. Lisa war skeptisch. Sagte nie etwas, wenn er am Wochenende auf Tour ging, aber der sorgenvolle Blick, den er jedes Mal im Rückspiegel wahrnahm, war ein Stich ins Herz.

Tim ließ den Seitenständer einrasten und schob die „Königin“, wie er seine Maschine liebevoll nannte, vorsichtig aus der Garage. Er durfte auf keinen Fall riskieren, Lisa aufzuwecken. Es würde alles nur in Tränen, Vorwürfen und endlosen Diskussionen enden. Er hatte eine Entscheidung getroffen und die würde er jetzt durchziehen.

Einige Seitenstraßen weiter saß er auf, nahm den Helm vom Lenker, der speziell für ihn mit einer grünen Kobra lackiert war, setzte ihn auf und streichelte liebevoll über den Tank. Dann drückte er den Startknopf. Und die Bestie kreischte auf. Ein Schalldruck wie der eines Düsenjägers, ging ihm durch Mark und Bein. Es war so, als würde man ihm Adrenalin direkt in die Venen spritzen. Ein paar Mal zupfte er am Gasgriff, um die Maschine auf Betriebstemperatur zu bringen. In einigen Nachbarhäusern gingen Lichter an. Egal. Tim löste die Bremse und rauschte los.

Seine Route hatte er genau geplant. Es ging los über Land. Eine kurvenreiche, bergige Strecke, die er so oft gefahren ist, dass er sie im Schlaf kannte. Jede Kurve reizte er bis ans Maximum aus. Er wurde eins mit dem Motorrad. Lag fast waagerecht in der Kurve und beschleunigte auf den Geraden über das erlaubte Maß. Natürlich wusste er, an welchen Stellen die Radarfallen standen und wo die „Trachtentruppe“ erwartungsgemäß stand.

Dann ging es auf die Autobahn. Ein gerades Teilstück. Keine Baustellen. Kaum Verkehr um diese Uhrzeit. Ideal, die über 300 PS dieser Bestie von der Leine zu lassen. 100 km/h, 200, 250. Die Umgebung verschwamm, wurde zu einer konturlos flimmernden Kulisse. Und Tim überließ sich ganz der Königin. Die Tachonadel näherte sich der 300. Ab diesem Punkt übergab er sein Leben in das Vertrauen in die Präzisionsmaschine. 310. Nur noch ein paar Sekunden. „Im freien Fall durch das gelobte Land. Kein Plan B und auch kein Notausgang.“ Ein Gemisch aus Glückshormonen und Adrenalin zerbarst fast seine Venen. 250, 200, 150, 100. Mit jedem Km/h weniger, sank sein Puls und der Herzschlag verlangsamte sich. Die letzten 100 KM Autobahn fuhr Tim ganz gemächlich und genoss den Augenblick.

Inzwischen war es 9:00 Uhr. Er hatte sein Ziel erreicht. Von Weitem sah er die Werbetafel „Fritz Kuhnert – Kraftfahrzeuge An-  und Verkauf“. Tim betrat den kleinen Container, der als Büro diente. Hinter dem Schreibtisch saß ein schmieriger Typ, der gerade seine Kippe in einer Kaffee-Tasse ausdrückte.

„Was kann ich für Sie tun?“

„Mein Name ist Tim Möller. Wir haben telefoniert.“

„Ah ja! Sie sind der mit der Rennmaschine.“

„Genau. Wollen Sie sich das Motorrad anschauen?“

„Gerne, aber es bleibt bei dem Angebot.“

„Sie ist kein Jahr alt“, stöhnte Tim.

„Ja, aber Sie wissen ja. Sobald man einmal den Schlüssel umdreht. Warum verkaufen Sie überhaupt? Hat Frauchen geschimpft?“ Kuhnert lachte dreckig.

„Ich werde Vater“, gab Tim kurz angebunden zurück. Er wusste, dass Lisa niemals dieses Opfer von ihm verlangt hätte. Im Gegenteil. Sie wusste um seine Leidenschaft und hätte sogar alles versucht, einen Verkauf zu verhindern.

„Verstehe. Dann heißt es wohl Freiheit, adieu.“

„Ersparen wir uns das und lassen uns zum Geschäftlichen kommen.“

Als die Papiere endlich unterzeichnet waren, drückte Kuhnert Tim einen Autoschlüssel in die Hand.

„Ich wünsche Ihnen allzeit gute Fahrt mit dem Schätzchen. Sie werden es nicht bereuen.“

„Kann ich mich hier irgendwo umziehen“, fragte Tim mit Blick auf seinen Rucksack.

„Klar, da vorne im Dixie-Klo.“ Kuhnert warf ihm einen Schlüssel mit einem „WC“-Anhänger zu. „Was machen Sie mit der Kombi? Ich hätte da eine Idee.“

Als Tim fertig war, legte er die Motorradkleidung wehmütig auf einem Stuhl ab. Lächelnd drückte ihm Kuhnert dafür einen Maxi-Cosi-Sitz in die Hand.

„Dann viel Spaß damit.“

Tim verließ mit einem Kombi den Hof des Gebrauchtwagenhändlers. Im Ortskern hielt er vor einem Juweliergeschäft. Wieder zurück, stellte er mit einem Lächeln ein kleines Schächtelchen auf den Beifahrersitz.

Auf dem Heimweg stellte Tim das Radio ein und als sei es ein Zeichen, lief „Gelobtes Land“. Er wischte sich eine kleine Träne aus dem Augenwinkel. Er war wehmütig, aber er wusste, dass nun ein neuer Lebensabschnitt begann und auf den freute er sich mehr, als dass er sein altes Leben vermissen würde.

Bei einer leichten Bremsung fiel das Schächtelchen vom Beifahrersitz. Es öffnete sich und ein Ring mit einem kleinen Brillanten fiel heraus. „Verflixt!“ Tim bückte sich rüber, um danach zu greifen. Ein röhrender Hupton schreckte ihn hoch. Als er aufblickte, sah er in die Scheinwerfer eines 40-Tonners, der unausweichlich auf ihn zukam.

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