Von J.W. Anders
Nein, ich bin nicht über Nacht zur Heldin mutiert. Ich habe Angst. Zittrige magendrückende Angst. Damit bin ich nicht allein, wie ein Seitenblick zu Piet beweist. Seine deutlich sichtbaren Kiefermuskeln sprechen Bände. Beinahe glaube ich das Knirschen seiner Zähne zu hören, doch das ist nicht möglich. Er jagt den Transporter mit höchstmöglicher Geschwindigkeit über die holprige Piste. Die Gitter im Laderaum scheppern ihr eigenes hektisches Lied dazu.
Uns begegnen nur wenige lädierte PKW und ein Kleinbus. Alle bis zum Dach beladen und beinahe mit dem Bodenblech über den Untergrund schrappend.
Vier Stunden. Mehr haben wir nicht. Ich kontrolliere die Zeit auf der Armbanduhr. Nein, nur noch drei Stunden und zweiundvierzig Minuten. Das wird verdammt knapp werden, doch schneller kann Piet wirklich nicht fahren.
Und während wir uns auf den Rückweg machen können, werden andere ausharren. Das sind die wahren Helden. Mein Kopf knallt beinahe gegen die Seitenscheibe, als Piet schwungvoll einem tiefen Loch ausweicht. Jedes Mal, wenn wir uns auf den Weg machen, treffen wir auf eine schlimmere Situation.
Endlich! Das Tor kommt in Sicht. Piet bremst und wendet den Transporter, um rückwärts in den Hof zu fahren. Das Holz der Torflügel ist schon lange morsch, an etlichen Stellen ausgebessert, der ehemals grüne Lack kaum noch zu erahnen. Die Scharniere jammern quietschend nach Schmiere, als sich die beiden Tore in Bewegung setzen. Davyd blockiert den rechten Türflügel mit einem Stein. Er sieht noch ausgemergelter aus als vor vier Monaten. Müde Augen über eingefallenen Wangen mit grauen Bartstoppeln, ein verwaschenes Hemd, die Hose mit einem Strick auf Hüfte geschnürt. An seiner Seite ein dreibeiniger Bernhardiner, den ich nicht kenne, und der mindestens so abgezehrt wirkt wie Davyd.
Endlich steht der Wagen und ich springe vom Beifahrersitz. Drei Stunden und dreizehn Minuten.
Dennoch nehme ich mir Zeit für eine Umarmung. Davyds Knochen sind deutlich zu spüren, Erschöpfung in jedem Muskel. Wie hat er die letzte Zeit überhaupt überstanden?
Piet und ich laden das mitgebrachte Futter und die Konserven für Davyd aus, während dieser sich um seine Schützlinge kümmert, sie reisefertig macht.
Noch zwei Stunden und neunundvierzig Minuten. David trägt das erste zitternde Fellbündel in graubraun heran. Aufgerissene Augen, eingeklemmte Rute. Vorsichtig bettet er den Mischling in einem der Käfige auf die Decke. Der Bernhardiner verfolgt alles mit nachdenklichem Blick.
Wir sind ein eingespieltes Team. Sanft, aber bestimmt, helfen wir den verschreckten Hunden in ihre Reisekäfige. Nur noch zweiundvierzig Minuten übrig.
„Wir müssen“, sagt Piet knapp.
Ich schaue den Boxengang hinunter. Bis auf die letzten beiden stehen alle Türen offen.
„Sind die leer?“
Davyd schüttelt den Kopf. Nur eine schwache Bewegung, kaum sichtbar. „Katzen.“
Ich hetze den staubigen Gang entlang. Entdecke eine Katzenmutter mit drei Kitten und eine kleine halbverhungerte Katze in den hinteren Boxen. Was tun? Die Käfige sind alle belegt.
„Hast du noch die alte Transportbox?“, rufe ich über die Schulter.
Davyd hat dieselbe Idee und kommt bereits mit der Plastikbox an. Er schiebt mich zur Seite und versorgt die Katzenfamilie. Dann drückt er mir die Box ohne ein Wort in die Hand.
„Und die Kleine?“
Er nimmt die Kleine auf den Arm. Sie rührt sich nicht, liegt wie tot mit hängendem Kopf und geschlossenen Augen.
„Nimm sie auf den Schoß. Sie ist ganz schwach. Wird sich nicht rühren“, sagt Davyd mit rauer Stimme.
Zurück am Transporter lasse ich ein letztes Mal meinen Blick schweifen. Ein trostloser Ort, der doch eigentlich Hoffnung bedeuten sollte. Trotz unserer Unterstützung sind die Mauern marode. Das Dach des kleinen Wohngebäudes sieht auch nicht mehr besonders dicht aus, die Scheiben sind blind oder gesprungen. Doch für die Tiere hat Davyd ordentliche Zwinger und Hütten gebaut.
„Los, los!“, ruft Piet.
Mein Blick bleibt an Davyds Augen hängen. Verwaschene blaue Iriden, rot gerändert. Tiefe Falten in den Augenwinkeln und auf der Stirn, heller als die sonnenverwitterte Haut. Mein Magen rumort. Kloß in der Kehle. Ich schlucke, doch der Druck will nicht weichen.
„Bis zum nächsten Mal“, sagt Davyd. So wie immer. Als ob es selbstverständlich wäre, dass er dann hier ist. Dass er diesen Wahnsinn überleben wird.
Der Kloß rutscht. „Du kommst mit uns, Davyd.“
„Nein. Das geht nicht. Es gibt noch so viel …“
„Doch!“, fahre ich dazwischen. „Dieses Mal musst du mitkommen. Du musst!“ Unbeugsamkeit in meinem Ton. So bin ich nicht – normalerweise. So grob! So entschieden!
Davyd blinzelt. Er bettet das Kätzchen auf den Beifahrersitz und stürmt ins Haus. Piet startet den Motor. Noch neunundzwanzig Minuten. Ich haste Davyd hinterher. Finde ihn zwischen Bett, Stuhl und Tisch stehend. Hier ist kaum etwas von ihm. Ein paar Bücher auf dem Regal, einige gerahmte Fotos an den Wänden. Seine Jacke hängt leichenähnlich an einem Haken. Davyd zerrt Kissen und Decke vom Bett und geht die zwei Schritte zur Tür. Ein letzter Blick. Mehr soll er nicht von seinem Leben haben?
Ich entdecke eine Jutetasche über der Stuhllehne. Sammle seine kleine Bibliothek an Lieblingsbüchern vom Regal. Stecke die Fotos dazu. Im Gehen fällt mir noch die bunte Tasse in der Mitte der zerschrammten Tischplatte ins Auge. Bei früheren Besuchen habe ich Davyd mit dieser Tasse gesehen. Hat sein Atem immer nach Pfefferminztee gerochen. Ich greife die Tasse im Vorbeigehen, lege sie auf die Bücher und renne zur Tür hinaus. Lasse diese offenstehen. Keine Zeit!
Noch fünfundzwanzig Minuten. Davyd wirft die Decke in den Gang zwischen den Käfigen. Zum Glück ist er so dünn. Ich würde nicht dazwischen passen. Er nickt, als ich ihm die Tasche reiche.
Ich hebe gerade den Fuß zum Einsteigen, da fällt mir der Bernhardiner auf. Halb hinter der Beifahrertür. Zugewandter Kopf, ein verhaltenes Schwanzwedeln.
Der passt nicht zu Davyd zwischen die Käfige. Den bekommen wir nicht mehr in den Laderaum.
Ein dunkler Blick, hängende Lefzen. Trostlosigkeit an einem trostlosen Ort. Der große Hund senkt den Kopf und humpelt einen Schritt zur Seite. Als hätte er meine Gedanken geahnt.
Ich hebe vorsichtig die schwache Katze vom Sitz, die wie ein nasses Säckchen in meinen Händen liegt.
Vierundzwanzig Minuten.
Ein schneller Augenkontakt mit Piet. Wir schwingen auf derselben Wellenlänge.
„Davyd, hilf mir mit dem Bernhardiner“, rufe ich.
Er reagiert sofort und springt aus dem Laderaum. Ich lege vorsichtig das Kätzchen auf seine Decke. Dann packen wir zu zweit den Bernhardiner und schieben ihn auf der Beifahrerseite in den Fußraum. Zu eng. Halb hängt er auf dem Sitz.
„Wie heißt er?“
„Goliath“, antwortet Davyd und endlich gelingt ihm ein blasses Lächeln.
„Okay, Goliath, dann mach dich mal ein bisschen dünn.“
Ich zwänge mich neben Goliath. Seine Brust liegt auf meinem Schoß, seine Schnauze ist meinem Gesicht ganz nah. Sein treu-seliger Blick ist unendlich tief. Ich spüre seinen Atem an meinem Hals.
Hinten fällt die Schiebetür ins Schloss. Piet rollt bereits an, noch während ich die Beifahrertür zuziehe. Dreiundzwanzig Minuten.
Piet beschleunigt vorsichtig, will die verschreckte Fracht nicht zu arg durcheinanderschütteln. Ich starre in den Seitenspiegel. Verfolge, wie die maroden Hofmauern der Tierstation kleiner werden. Die Tore weit offen. Vielleicht finden streunende Hunde das Futter.
Obwohl Piet kaum schneller als Schritttempo fährt, rumpelt und ruckelt der Transporter. Rechts und links des Weges ducken sich kleine Wohnhäuser und wirken grau und einsam. Ich hoffe, dass sich alle Bewohner in Sicherheit gebracht haben. Dass niemand hinter blinden Fenstern ausharrt.
Mir ist heiß. Ich weiß nicht, ob vor Aufregung oder von Goliath, der es sich inzwischen halbwegs auf mir bequem gemacht hat.
Das Tierheim. Nur noch ein grauer Fleck zwischen anderen grauen Flecken im Spiegel. Wie oft sind wir in den letzten beiden Jahren hier gewesen und haben Hunde abgeholt? Verlassene, Einsame oder Verletzte. Doch noch nie war die Front so nah. Meine Innereien sind ein wunder Klumpen. Ich senke die Stirn auf Goliaths großen Schädel, bis meine Augen aufhören zu brennen. Als ich wieder aufsehe, bemerke ich Piets Nicken. Seine Hände halten das Lenkrad so fest, dass die Knöchel hell durch die Haut schimmern.
„Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt!“ Ich kann Piets Worte gerade so verstehen.
Ja, ich wünschte, wir könnten diese Welt retten. Alle Irren stoppen. Leider unmöglich! Und vier Stunden, das reicht gerade für einige Hunde und Katzen und einen ausgehungerten Mann. Der selbstlos sein letztes Essen mit diesen unschuldigen Seelen teilt.
Elf Minuten. Über das Motorgeräusch hinweg hören wir es gleichzeitig. Granaten! Diese Verräter. Halten sich nicht einmal an die Abkommen. Mein Blick hetzt zum Seitenspiegel. Sucht den vertrauten grauen Punkt. Einschlag! Pulverisierte Trümmer wirbeln auf, donnernder Schall. Die Druckwelle erschüttert den Transporter. Winselnde Hunde. Davyd knallt gegen das Trenngitter zwischen Fahrerkabine und Laderaum.
„Diese miesen … . Jagen mein Zuhause in die Luft“, knurrt er.
Piet gibt Gas und umfährt ein tiefes Schlagloch. Ich werde gegen die Tür gedrückt und Goliath in meinen Schoß. Brummen tief aus der breiten Hundebrust.
„Wenigstens nicht dich!“, rufe ich Davyd zu.
Hinter uns ein Einschlag nach dem anderen. Weshalb dieses ärmliche unbedeutende Dorf? Weshalb alles zerstören?
Die Einschläge kommen näher. Bringen den Wagen zum Schwanken und Schlingern. Verlangen Piet alles ab. Der drückt das Gaspedal bis zum Anschlag durch und der Transporter jagt über Dellen und Löcher. Das Chassis jault und klappert. Die Hunde kläffen in den höchsten Tönen.
Schweiß rinnt mir den Rücken hinab. Angstschweiß! Mein Herz rast. Bewusstes Ein- und Ausatmen, um die Panik zu stoppen.
Ich umarme Goliath. „Alles wird gut. Keine Angst. Es wird alles gut.“
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